Bewegungs-Freiheiten
Boris Charmatz: „A dancer's day“ auf dem Tempelhofer Flughafen im Hangar 5
Die Idee verblüfft, und nach drei Stunden des Herumspazierens zwischen bewegter Tanzhistorie imponiert sie rundum. Mit einer ungewöhnlichen Über-Performance eröffnete bei Foreign Affairs der Fokus Tanz. Gewidmet ist er dem Franzosen Boris Charmatz, der in Rennes ein höchst lebendiges Musée de la Danse aufbaut, in dem nicht ausgestellt, sondern praktiziert wird. Was sonst kurz nach der Aufführung verweht, falls nicht wiederholt oder gefilmt, dem fahndet Charmatz nach mit dem Ziel, Wesentliches durch Repetition zu reaktivieren und so am Leben zu erhalten. „20 Dancers for the XX Century“ nennt sich, ausprobiert schon im MoMA New York, eines seiner vielen Memoriale in Bewegung. Auch auf dem tragischen Terrain des bereits 1949 eingeweihten Sowjetischen Ehrenmals in Treptow hat es sich behauptet.
Überall auf dem riesigen Gelände zwischen der knieenden Mutter Russland und dem himmelhoch ragenden, kindtragenden Soldaten auf seiner Anhöhe flackert kurzzeitig Tanz auf. In die Weite gestreute Schnipsel sind es, die an wegweisende Stücke aus dem vergangenen Jahrhundert und ihre Schöpfer erinnern. Tänzer haben minutenkurze Sequenzen daraus einstudiert, manche von ikonografischer Wucht bis heute, zeigen sie auf ungewohntem Untergrund in scheinbar artfremdem Ambiente: Fleischliche und zeitliche Endlichkeit tanzt gegen bronzene Ewigkeit an.
Trauben Mitwandernder, manche nur staunende Zufallsbesucher, umstehen allerorten die Akteure. Im Trainingsdress zelebrieren sie Ausschnitte aus Kreationen von Merce Cunningham bis Meg Stuart, Vaslav Nijinsky bis Pina Bausch, Kontaktimprovisation bis Butoh, die bunte Palette des Tanzes eben. Und sie laden danach Zuschauer ein, in einer kurzen Lecture die technischen Geheimnisse hinter den Stilen am eigenen Körper zu erfahren. Mit schwerblütigem Museum hat das Ganze nichts zu tun, eher mit fröhlichem Freilichtlaboratorium und pädagogischem Hintersinn. So erinnert Ko Murobushi an den Butoh-Barden Tatsumi Hijikata, erläutert, wie man die Unmöglichkeit darstellt, seine Hand zu bewegen, und bezieht gleich noch die Schreie eines Babys ein. Schräg gegenüber widmet sich der Kenianer Mani A. Mungai Soli von Michael Jackson, demonstriert die legendären Hochsprünge der Massai direkt aus dem Stand. Auf hartem Pflaster hält Alex Mugler dem Vogue, entstanden in der schwulen Ballroom-Szene im Harlem der 1960er, die Fahne hoch. Partisanenlieder singt laut der Slowene Matej Kejžar; im Vorlesen von Marx-Schriften in deutscher Sprache übt sich der Moskauer Künstler Dmitry Gutov und vertritt damit die 2006 gegründete Karl Marx School of the English Language.
Am Fuß des 12 Meter hohen Soldaten zitiert die Ukrainerin Olga Dukhovna in Sportschuhen aus Pavlovas „Sterbendem Schwan“ und Chaplins „Modern Times“, lehrt russische Folklore. Daneben die Lektion in Pina Bausch. Vor einem der weißen Marmorsarkophage reanimiert deren Kollegin Reinhild Hoffmann ein Eigensolo aus „Die Horatier“ zur Heiner Müllers Stimme. Dass der Jahrmarkt des Tanzes der würdigen Gedenkstätte einen Hauch von Gegenwart verliehen hat, ist einer seiner weiteren Vorzüge.
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