Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
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Das Bayerische Staatsballett zeigt die Rekonstruktion von „Le Sacre du printemps“ in der Choreografie von Mary Wigman
Geschichte ist das Fundament der Zukunft. Deswegen ist es fruchtbar, sich zurückzubesinnen, auch in der Kunst. Hierzulande tut das zur Zeit die Kulturstiftung des Bundes mit ihrem Tanzfonds Erbe. Nach Oskar Schlemmer und seinem „Triadischen Ballett“ stand die deutsche Ausdruckstanz-Legende Mary Wigman (1886-1973) auf dem Aufarbeitungsprogramm. Die Franzosen waren da mit ihrer Lyoneser Dance-Biennale 1986, kompakt zur Ära des Tanz-Expressionsmus, wesentlich früher dran: Wigmans freier, ganz von innen her bewegter Tanz war ja ab den 1910er/20er Jahren, also weit vor Pina Bausch, aufregend kühner Gegenentwurf zum klassischen Ballett.
Letztes Jahr nun, genau zu ihrem 40. Todesjahr und zum 100. Geburtstag von Strawinskys/Nijinkys „Sacre du Printemps“, entriss man Wigmans „Sacre“-Version von 1957 dem Vergessen. Rekonstruiert haben es Henrietta Horn und Team, unterstützt von ehemaligen „Wigman-Frauen“. Nach der Premiere 2013 mit 25 Tänzern der Ensembles von Osnabrück und Bielefeld hat jetzt das Staatsballett die Produktion übernommen, besetzt mit 45 Tänzern wie bei der Uraufführung. Phonstark der Jubel in der Münchner Reithalle.
Die Bühne: eine große leicht schräg geneigte ovale Scheibe, schnell bevölkert von schritt-zierlich huschenden Mädchen und rustikal stampf-schreitenden Männern. In mehrreihigem Kreis öffnen sie Torso und erhobene Arme, so dass – Metapher des Schmerzes – eine riesige Zackenkrone aus Körpern entsteht. Sie teilen sich auf zu sitzenden Paaren. Sammeln sich im Zentrum zu einer dicht verflochtenen Masse. Fliegen wieder auseinander: soghaft ihr kreisendes Laufen, bei schwingenden Zöpfen und langen Gewändern, physisch beeindruckend die wie gepeitsche Ährenfelder vornüber geworfenen Leiber im unerbittlich hämmernden Rhythmus der beiden Klaviere. Myron Romanul und Simon Murray spielten die von Strawinsky autorisierte Klavierfassung, was der bildnerischen Klarheit dieser Rekonstruktion gut anstand.
Durch diesen „Frühlingsweihe“-Aufruhr wandeln gemessen, die Arme puppenhaft abgespreizt, kahl geschoren oder Kopf und Hals mit Haube verhüllt, mittelalterlich anmutende Figuren: Sinnbilder für weise Männer, Priester und Mütter.
Dieser Kontrast zwischen heftiger chorischer Bewegung und starr-marionettenhafter Stilisierung ist ästhetisch sehr reizvoll, wie auch Wigmans erstaunliche vielfältig variierte Raumwege und Gruppen-Arrangements. Man kann auch nur ein Loblied darauf singen, dass Henrietta Horn, Susan Barnett, Katharina Sehnert und weitere ehemalige Wigman-Erfahrene rein aus Aufzeichnungen, Erinnerungen und kreativen Gedankenbrücken diese Rekonstruktion geschafft haben – in heldischer Puzzlearbeit.
Getanzt wurde überdies mit einmaliger Präzision: die von liegenden Körpern gebildete Gasse – wie mit dem Lineal gezogen. Und Stephanie Hancox, durch ihre „Isadora“ bereits erfahren in tänzerisch freier dramatischer Geste, belebt die in kunstvoll S-förmige Haltungen gezwungene Figur des Frühlingsopfers durchaus mit Dramatik (1957 kreiert, und sicher auch formal mitgeprägt, wurde diese Rolle von der auch eigenständig choreografierenden Ausdruckstänzerin Dore Hoyer).
Und doch: Die ganz große Zeit der Wigman war ihr Beginn, waren ihre Soli, die sie aus einer unbändigen Empfindung aus sich herausschmiedete. Und „Sacre“ choreografierte sie ja nicht für ihre frühe Wigman-infizierte Truppe, sondern für das „Ballettensemble“ der Städtischen Oper in Berlin. Eine Auftragsarbeit – in der sich indirekt auch ein Bruch abzeichnet: Sie hatte, prekär genug, die NS-Zeit und den Krieg durchgestanden. Hatte sich in der Nachkriegszeit, in einem völlig neuen Existenzgefühl, auch selbst verändert.
Interessant wäre übrigens, herauszufinden, ob und in wieweit Martha Grahams Modern Dance von Wigman beeinflusst wurde - Wigmans Schule hatte ja früh Zweigstellen in New York - und auch umgekehrt. Die ein oder andere Bewegung wirkte „grahamisch“.
Wichtig auch: Wigman hatte keine Lehrmethode im eigentlichen Sinne. Ihre Schüler/Tänzer übten bis zur Erschöpfung Laufen, Hüpfen, Schwingen, Federn durch den Raum, bis sie, Haut und Seele, in der Bewegung aufgegangen waren. Das lässt sich einem Staatsballett nicht in wenigen Wochen einimpfen: dieses Gefühl für Schwere, für Erde, für ein archaisches Ritual.
Und trotzdem: wie immer „kunst-voll“ ihr „Sacre“ war und es vielleicht noch stärker durch die Rekonstruktion geworden ist, für heutige Tänzer ist dieses Stück eine exzellente (Lern-)Erfahrung und fürs Publikum sicher auch interessantes Museum. Ein wenig verlegen wirkt an diesem Abend die Koppelung mit Simone Sandronis zeitgenössisch peppigem Repertoire-Stück „Das Mädchen und der Messerwerfer“ (nach Wolf Wondratscheks Ballett-Libretto). Oder soll man verbindlich sagen: schau, so hat sich der Tanz-Expressionismus bis hin zum akrobatischen Streetdance vorgewagt?
Bis 19. 6., 19 Uhr 30,
In der kommenden Spielzeit im Münchner Prinzregententheater
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