Auf Vergangenes zurückblicken
Thema der Spielzeit 2012/13: Rekonstruktionen im ganzen Land
Als eine „subjektive Erinnerungschoreografie und Geschichte des deutschen Tanzes jenseits von Rekonstruktion“ versteht Christoph Winkler seine zeitgenössische Version der durch Mary Wigman (1924) und Tom Schilling (1978) tradierten „Abendlichen Tänze“. Wenn die sieben Performer anfangs hereinstürmen, füllen ihre Statements wie eine Wortmeldung den weißen Raum verbal mit subjektiven Informationen zur Biografie des Tänzers und Choreografen Christoph Winkler (Jg. 1967, Torgau). Sie alle sind Facetten seines Ichs.
Christoph Winklers mehrschichtiger Erinnerungsprozess kreist um die elementare Grundfrage: Wer bin ich und warum bin ich der geworden, der ich bin? Die subjektive Perspektive wird durch sein Konterfei in klassischer Pose gestützt. Aufgenommen 1990, Winkler im Technofieber, im Drill an der Ballettschule, Tom Schilling – für ihn ein unbekannter Name. 1990 sieht er Schillings „Abendliche Tänze“. Die Performer stellen lebensgroße s/w-Tänzerfotos von Hannelore Bey und anderen Protagonisten auf - aus der Ferne klingt Franz Schuberts Trio Es-Dur. Ahmed Soura beginnt frei schwingend im Raum zu tanzen, er umfängt den bärtigen Italiener Pietro Pireddu, ihr Duett rivalisierender Sprachlosigkeit mündet plötzlich, den brüllend skandierten Anweisungen eines überzeichneten Choreografen (Chris Daftsios) folgend, in Unterwerfung oder Manipulation.
Diese Verknüpfung von Erzählebenen bleibt für den Zuschauer wie vieles an dieser szenischen Spurensuche völlig rätselhaft. Die Tänzer hüpfen in isolierten Posen, gesplitteten Gruppen bis zum Stillstand durch den Raum, groteske Überzeichnungen in schrillen MTV-Bewegungsmustern, Sprache und Gesang. Eine Interaktion mit den Lichtjahre entfernt anmutenden Protagonisten auf den Aufführungsfotos findet nie statt. Karima el Amranis intensivem Solo vibrierender Sehnsucht folgt der kollektive Ruf „Where is Mary?“. Ein Foto der Übermutter des Ausdruckstanzes in hockender Pose und Goldkleid wird hereingetragen. Zärtlich richten die Tänzer ihre Fragen an Mary Wigman. Claire Vivianne Sobottke antwortet mit tiefer Stimme singend, japsend, hündisch, in ihr Paradies lockend. Auch der Komplizenschaft erheischende Blick des Frauenquartetts mit Zungenanmache ins Publikum läuft ins Leere.
Der Geist des Erinnerten wird bei Winkler von Hasstiraden gegen klassische Pädagogen, Choreografen und Eigenschelte begleitet. Bei Wigman wie bei Schilling (über die der Zuschauer nichts erfährt) leben die „Abendlichen Tänze“ aus der Begegnung mit existenziellen Fragen (Der Tod und das Mädchen). Auch Winkler fokussiert seinen textlich prägnanten, doch verbal überbordenden Fragekanon (in Englisch/Französisch bei teils unzureichender gestischer Phonetik der Performer) auf die Bruchstellen, Verletzungen, Glücksmomente seiner eigenen Biografie.
Winklers Überzeichnung des Stücks „Abendliche Tänze“ zeigt fragmentarisch (gegen alle Mythenbildung) die Fremdheit. Die Memotechnik seiner Suche vergegenwärtigt etwas Abwesendes als Abwesendes (auch Tom Schilling kannte Wigmans „Abendliche Tänze“ nicht). Trotz seines starken gedanklichen Diskurses mangelt es seiner Choreografie und Inszenierung, bei einer Überlänge von zwei pausenlosen Stunden, deutlich an dramaturgischer Prägnanz.
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