„East Shadow“ von Jiri Kylián. Tanz: Sabine Kupferberg und Gary Chryst

„East Shadow“ von Jiri Kylián. Tanz: Sabine Kupferberg und Gary Chryst

Unausweichliche Vergänglichkeit

Europapremiere von Jiri Kyliáns „East Shadow“ mit Sabine Kupferberg und Gary Chryst in Monte Carlo

Von Kylián selbst als Tragikomödie bezeichnet, die mit dem absurden Theaters Samuel Becketts spielt, zitiert der Choreograf Alltägliches, einmal live, einmal via Film vom Sinn und Unsinn vom Zusammenleben eines Paares.

Monte Carlo, 20/04/2014

Es sieht so aus, als ob Tränen in ihren Augen stehen. Als sie sich vom Hocker erhebt, ist die Anspannung in ihrem Körper seh- und spürbar. Tomoko Mukaiyama hat soeben gegen fünfundvierzig Minuten lang die Intensität und Genauigkeit der Dramaturgie des Trios „East Shadow“ maßgeblich mitbestimmt. Auch sie ist Darstellerin. Mit einer schier unfassbaren Differenziertheit spielte die Pianistin im langen Silberkleid, links auf der Bühne des Prince Pierre-Theaterraumes im Monaco Dance Forum, und brachte Jiri Kyliáns inhaltlich dicht gepackte theatrale pointierte Fülle wie eine Erkenntnis leibhaftig auf den Weg. Dass Alles einmal ein Ende hat, wäre dafür eine viel zu banale Erklärung, ein gewisses Pathos könnte mitschwingen angesichts der Tatsache unser aller Sterblichkeit und müheloser Auslöschbarkeit. Mukaiyama, die mit eigenen Werken bekannt geworden ist, aber auch mit Marina Abramovic gearbeitet hat, insistierte unablässig mit den minimalistischen, selbst geschriebenen Kompositionen „Beginning“ und „East Shadow“, die Dringlichkeit suggerieren. Erst gegen Ende drückt sie Schuberts Andantino aus der Sonate in A-Dur 959 aus den Tasten, nahezu stockend interpretiert, trocken, ehe der Ton ganz abbricht. Aus. So als würde Vergangenheit benannt, die immer hereinreicht in unsere Gegenwart und eine kleine Welt zitiert, die einmal, nostalgisch, in einer Ordnung war?

Der Applaus kommt nicht gleich. Bereits am Anfang war das typische Hüsteln aus dem Zuschauerraum hörbar geworden, das oft dann entsteht, wenn etwas nicht vorhersehbar verläuft. „East Shadow“ ist das scharfe Kontrastprogramm zum vorhergegangenen zweitägigen Gastspiel des Genfer Balletts im größeren Saal des Grimaldi Forums. Da ließ Ken Ossola in „Lux“ (Requiem von Gabriel Fauré) in jeder Minute erkennen, dass ihn sein Meister, Kylián, so sehr geprägt hat, dass er sich die Bezeichnung „aus der Schule von“ gefallen lassen muss. Andonis Foniadakis wiederum ließ in „Glory“ (zu einem Händel-Verschnitt) auf Teufel komm raus tanzen: Von aerobicähnlichen Motiven über Neoklassik und zeitgenössischer Bodenarbeit war da Kombiniertes nummern- und showmäßig wiederzufinden. Das wirkte wie aus anderen Tagen: Als Formfindung im energetischen Tanz unabdingbar war, Inhalt aber auf der Strecke blieb. An diesem Abend wird nicht so sehr viel live getanzt von Kyliáns Lebens-Muse Sabine Kupferberg und dem ähnlich älteren Tänzer Gary Chryst. Beide bestimmten Kyliáns Nederlands Dans Theater III maßgeblich mit, sein legendäres Ensemble für Tänzer/innen 40 plus. Ein Meilenstein in der Tanzentwicklung, mit dem Kylián damals eine neue Diskussion zum Thema Altern auslöste und seither etliche Nachahmer gefunden hat.

In „East Shadow“ wird viel Situatives zunächst einmal via Film von Jason Akira Somma projiziert. Und von Beginn schwingt im zweigeteilten Bühnenraum Historizität mit, einmal in einer dreidimensionalen Kulisse eines kargen Zimmers, dann dieselbe eben so groß als Schwarz-Weiß-Foto gespiegelt, darin ein offenes Fenster, aus dem viel später die große Überflutung in Erinnerung an das Erdbeben, den Tsunami und den Supergau in Fukushima (2011) hereinströmt. Die japanische Aichi Triennale unter Taro Igarashi und Jean-Christophe Maillots Monaco Dance Forum haben, neben weiteren Partnern, im Herbst 2013 „East Shadow“ koproduziert. Von Kylián selbst als Tragikomödie bezeichnet, die mit dem absurden Theater Samuel Becketts spielt, zitiert der Choreograf Alltägliches, einmal live, einmal via Film in der Geschwindigkeit verschoben, vom Sinn und Unsinn vom Zusammenleben eines Paares. In seiner klugen Beschaffenheit aber fließt der Tanz live und auf Film im Kopf des Betrachters zu einem philosophisch-theatralischen Essay ineinander, in dem der Galgenhumor nicht fehlt. Der Zeitgenosse Kylián nutzt unsere antrainierte Gewohnheit, viele Reize nahezu gleichzeitig aufnehmen zu können und entgeht damit auch jedem Anflug von Pathos und Länge. In der perfekt ausgeklügelten, geschichteten interdisziplinären Inszenierung samt jenem „Neither“-Text von Samuel Beckett, der durch Morton Feldmans gleichnamiges Musiktheater bekannt geworden war, kulminiert ein faszinierendes ereignishaftes Geflecht aus einer Art von Vergangenheit und repetitiver Gegenwart. Eine unauflösliche Verkettung von Absurditäten, Wärme und Tragik, ein scheinbares Nichts als Ende oder Neuanfang. Kupferberg im schwarzen längeren altmodischen Kleid mit verbeultem Hut und Chryst in dunklem Anzug, die Melone auf dem Kopf: ein älteres Paar, das uns slapstickartig im Stummfilm, teils im Zeitraffer, voneinander erzählt, vom Zeitverbringen miteinander, umeinander, komisch, existenziell. Live sind die beiden Tänzer aus der ersten Reihe im Zuschauerraum auf die Bühne getreten, sitzen an einem Tisch. Sie zeigen Gestisches, beschreiben Lebensraum in den exakt gesetzten, zeichenhaften Posen. Als Pars pro toto wie es eben auf diese Weise „menschelnd“ nur so sein kann. Das Leben verläuft immer gleich, aber hinreißend weil einzigartig, die Katastrophen nehmen ihren Lauf.

Jean-Christophe Maillot, der seit 20 Jahren die Ballets de Monte Carlo an einem Ort des ebenso schillernden wie fragwürdigen High-Life-Sports künstlerisch erfolgreich leitet, setzt immer wieder auf kritische Gegenwart. Unvergessen ist auch Sidi Larbi Cherkaouis Auftragswerk „In Memoriam“.

Nächste Vorstellungen von „East Shadow“: Budapest am 22. und 23. April, im Rahmen des Kylián-Festivals in Den Haag von 22. bis 31. Mai, Athen am 28. Und 29. Juni
 

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