Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
Traditionell wird die Nijinsky-Gala, mit der alljährlich die Spielzeit beschlossen wird, in römischen Ziffern gezählt. Dieses Jahr fand sie zum 40. Mal in der 41. Spielzeit der Ägide John Neumeier statt, was zu dem doppeldeutigen Zusatz „XL“ führte – und damit durchaus treffend charakterisiert war. Fünfeinhalb Stunden dauerte der Mammut-Abend dieses Jahr wieder einmal – und hätte vom Timing her nicht besser platziert sein können: Just als zum Schlussapplaus der bunte Konfetti-Regen vom Schnürboden auf die Tänzerinnen und Tänzer herabrieselte, war Deutschland Weltmeister geworden. Im dritten Teil der Gala waren die Reihen im Publikum deshalb schon etwas gelichtet – das WM-Finale erschien vielen offenbar attraktiver als das Geschehen auf der Bühne, was durchaus verständlich war nach den wenig glanzvollen ersten beiden Teilen. Wer gegangen war, verpasste allerdings gerade das stärkste und emotionalste Drittel dieses Abends, der thematisch Russland gewidmet war: mit Musik, Thema, Text und Tänzern.
Der erste Gala-Abschnitt wurde fast ausschließlich von Hamburger Tänzern bestritten und war vor allem den russischen Komponisten Peter Tschaikowsky und Igor Strawinsky gewidmet. Den Auftakt machten Neumeiers „Petruschka-Variationen“, präzise präsentiert vom Bundesjugendballett, das ab der zweiten Szene in den Trikots des DFB auf die Bühne kam – ein kecker Gruß an die Nationalmannschaft. Am Flügel begleitete stilsicher und virtuos Christopher Park. Es folgte der Pas de Deux des blauen Vogels aus „Dornröschen“ in der Petipa-Choreographie mit Carolina Aguero und Sascha Trusch sowie der Grand Pas de Deux aus Neumeiers „Nussknacker“ mit Leslie Heylmann und Carsten Jung. Das war alles schön und präzise dargeboten, aber der Höhepunkt dieses ersten Gala-Teils war zweifellos der Schluss-Pas de Deux aus Crankos „Onegin“ mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, die einmal mehr ihre große Tanzkunst unter Beweis stellten. Hélène Bouchet und Otto Bubenicek zeigten eindringlich und berührend den letzten Pas de Deux aus Neumeiers „Orpheus“, nachdem Andrej Merkuriev vom Bolschoi Ballett ein Solo des russischen Choreographen und heutigen Leiters des Balletts von Perm präsentiert hatte, eine etwas blasse Etude für einen jungen Tänzer. Zum Abschluss vor der Pause dann als von Neumeier ankündigte „Ausnahme vom Thema“ noch zwei Auszüge aus seinem „Spring and Fall“ zu Musik von Dvorak – fein dargeboten von den Hamburgern Christopher Evans, Konstantin Tselikov und Kiran West sowie von den Gästen Alina Cojocaru und Zdenek Konvalina vom English National Ballet. Allerdings wurde man nicht so recht schlau daraus, warum Neumeier gerade dieses Stück ins Programm genommen hatte.
Über Teil 2 der Gala würde man am liebsten den Mantel des Schweigens breiten – er war den russischen Tänzern gewidmet und bestand aus einer „Kurzfassung“ von Neumeiers „Kameliendame“ in Form der drei großen Pas de Deux in drei verschiedenen Besetzungen. Die gebürtige Russin Polina Semionova vom American Ballet Theatre machte den Anfang und gab im schwierigen violetten Pas de Deux ihr Debüt in der Titelrolle. Hier entdeckt die Mätresse Marguerite die liebende Frau in sich, sie schwankt hin und her zwischen dem schmeichelhaften Umworbensein einerseits und dem für sie unbekannten Gefühl einer inneren Verbundenheit und tief empfundenen Liebe andererseits. Semionova gelang es trotz der kurzen Vorbereitungszeit, diesem Part etwas Seele einzuhauchen. Als Armand war Matej Urban vom Bayrischen Staatsballett München kurzfristig für den erkrankten Hervé Moreau eingesprungen.
Mit dem weißen Pas de Deux aus dem 2. Akt dann die nächste Besetzung: Olga Smirnova und Artem Ovcharenko als Marguerite und Armand sowie Andrej Merkuriev als Monsieur Duval, alle vom Bolschoi Ballett. Das sind zweifellos sehr gute Tänzer und Olga Smirnova eine delikate Ballerina, aber den Anforderungen der „Kameliendame“ waren sie nicht gewachsen. Gerade diesen weißen Pas de Deux darf man nicht manieriert geben, nicht neckisch und auch nicht divenhaft. Er erfordert eine Reinheit der Seele und des Herzens, eine ganz und gar uneitle Hingabe – Qualitäten, die vielen russischen Ballerinen offenbar fremd sind. Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett blieben im schwarzen Pas de Deux aus dem 3. Akt vergleichsweise leidenschaftslos – aber es ist auch schwierig, diese Intensität am Ende einer so anstrengenden Spielzeit auf Knopfdruck abzurufen.
Die in Stuttgart uraufgeführte „Kameliendame“ – das war früher ein Werk, dessen Hauptrollen Neumeier (zu Recht) nur an wenige, sehr kritisch ausgewählte Tänzer vergab. Die meisten Ballerinen mussten erst einmal durch die Prüfung der Manon (als Spiegelung der Marguerite) und die Tänzer durch die des Des Grieux (als Spiegelung des Armand), bevor sie in die noch sehr viel anspruchsvolleren Hauptrollen wechseln durften. Es bekommt diesem Stück ganz offenkundig nicht gut, wenn mit dieser Regel gebrochen wird und wenn es an so viele unterschiedliche Kompanien in aller Welt vergeben wird (Paris, München, New York, Mailand, Dresden). Was allerhöchste Tanzkunst darstellt und die Herzen der Zuschauer berührt, kann allzu schnell ins Geschmäcklerische, Triviale, Beliebige abrutschen.
Und so war es denn fast eine Erholung, ein Aufatmen, als zu Beginn von Teil 3 der Gala Thiago Bordin als Kostja und Hélène Bouchet als Nina in Neumeiers „Möwe“ auftraten – zweites Highlight und einer der emotionalsten Momente des Abends. Denn Thiago Bordin verabschiedete sich damit von der Hamburger Bühne – er wechselt zum Nederlands Dans Theater 1. Das Hamburg Ballett verliert mit ihm einen seiner wichtigsten Ersten Solisten und vor allem einen ganz großen Tänzerdarsteller. Bleibt zu hoffen, dass er beim NDT nicht nur seine tänzerischen Qualitäten vervollkommnen, sondern auch seine choreographischen Ambitionen weiter ausbauen kann – und dass es irgendwann ein Wiedersehen in der Hamburgischen Staatsoper gibt.
Nach so viel Emotion etwas gänzlich Unemotionales: der Pas de Deux aus Marius Petipas „Le Corsaire“ – glanzvoll zelebriert von Alina Cojocaru und Yonah Acosta vom English National Ballet (der seinen Solo-Auftritt verpasste, weshalb das Orchester zum Amüsement des Publikums einmal vor leerer Bühne spielte), sowie das Solo „Andante Cantabile“ des blutjungen Patrick Eberts (früher Bundesjugendballett), getanzt von Lloyd Riggins.
Es folgte ein weiterer Abschied und dritter Höhepunkt des Abends: Anna Polikarpova tanzte ein letztes Mal mit der nur ihr eigenen Intensität die Romola in dem bewegenden Pas de Deux aus dem 2. Teil von Neumeiers „Nijinsky“, gemeinsam mit dem ebenfalls großartigen Alexandr Riabko. Anna Polikarpova beendete damit 44-jährig ihre glanzvolle Bühnenkarriere, bleibt dem Hamburg Ballett jedoch glücklicherweise als Ballettmeisterin und -pädagogin erhalten.
Mit dem Diamanten-Pas de Deux aus „Jewels“ durften es Olga Smirnova und Semyon Chudin vom Bolschoi Ballett noch einmal gewaltig glitzern lassen auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper, aber auch hier wäre weniger Allüre mehr gewesen. Gerade diese schwierige Balanchine-Kreation erfordert mehr Schlichtheit, mehr Reinheit als Arroganz.
Als Rausschmeißer gab’s mit „Klein Russland“ dann noch Neumeiers Hommage an die Ballets Russes, bevor die Gala im großen Publikumsjubel endete. Simon Hewett hatte die Hamburger Philharmoniker stets gut im Griff, und Michal Bialk war in der „Kameliendame“ wie immer ein einfühlsamer Begleiter am Flügel.
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