Ein Hauch von Ewigkeit
Meg Stuart erhält in Venedig den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk
Weiß gestrichene Palletten mit Sitzauflagen in einem Viereck angeordnet, schnell weiß man das Ambiente einzuordnen. Dort, wo sie stehen, soll getanzt werden, zeitgenössisch wohlgemerkt. Wenn wenige Minuten später zehn Männer und Frauen mit dicken schwarz-braunen Umhängen und schwerem Schuhwerk Folklore aus heutiger Perspektive deuten – so geschehen in Claudia Castelluccis „Esercitazioni ritmiche“ – kann man erahnen, wie es sich mit einem historischen Erbe von Gewicht produktiv arbeiten lässt.
Zum zweiten Mal präsentierte Virgilio Sieni, der künstlerische Direktor der Tanzbiennale Venedig, fünfzehn der insgesamt 48 Performances niederschwellig und kostenlos auf malerischen Plätzen der Lagunenstadt. Sieni, Humanist mit ganzheitlichem Blick, verknüpft damit unangestrengt die Praxis der antiken Agora als Forum des Austausches über Politik, Philosophie und Kunst mit dem Audience Development einer Touristenhochburg des 21. Jahrhunderts.
Die „Biennale Danza“ schielt jedoch nicht primär auf Cash-Flow und belegte Betten. Dazu spielt zeitgenössischer Tanz eine zu marginale Rolle. Tatsächlich geht es Sieni um breite Bildung im feinsten Sinne des Wortes. Heuer verweigert seine „kleine Edition“ sogar – wohl auch aus finanziellen Überlegungen – den internationalen Gastspielreigen und fokussiert völlig auf kurzes, prozessorientiertes Arbeiten mit dem professionellen Tanznachwuchs, talentierten Kindern, Jugendlichen, Älteren sowie Menschen mit Beeinträchtigung. Das in Workshops innerhalb weniger Wochen unter Anleitung von 18 Choreografinnen und Choreografen erarbeitete Material zeigte man von 25. bis 28. Juni durchschnittlich dreimal in Form 20-minütiger Showings. Zu sehen gab es eine vielfältige Palette choreografischer Zugänge, deren Handschrift und tänzerische Umsetzung verglichen mit den Ergebnissen des Vorjahres deutlich konturierter war.
Als thematischen Bogen empfahl Sieni unbeirrt von internationalen Debatten wie Intermedialität, Interaktion oder Immaterialität „La dignità del gesto“ (Die Würde der Geste). Tatsächlich lassen sich der Geste in Anbetracht der vorgelegten Arbeiten immer wieder interessante Aspekte abseits einer illusionistischen Theatralität abgewinnen, vor allem, wenn man sie breiter denkt.
So abstrahiert etwa die Schweizerin Jasmine Hugonnet in „Le Récital des Postures – Extensions“ das kommunikativ Gestische in autistisch-groteske Formationen, die ihr siebenköpfiges Ensemble unerträglich langsam und muskulär höchst angespannt durchläuft als gelte es die Abgründe des Menschlichen auszuloten. Boris Charmatzs Geste der Würdigung wirkt dem gegenüber spielerisch, mit leichter Hand hingeworfen. In „Roman photo“ lässt er die Choreografin Olivia Grandville seine Merce-Cunningham-Referenz aus dem Jahr 2009 „50 years of dance“ auf Tänzerinnen und Tänzer übertragen, die weder mit ihren teils üppigen Körperproportionen dem ursprünglichen Cast entsprechen noch über Skills der Cunningham Technik verfügen. In flippig-bunten Kostümen inkorporieren die Zwölf zwar erfrischend enthusiastisch die Bilder aus „50 years of dance“ als clownesken Slapstick. Der Spirit Cunninghams verhallt allerdings bei so viel Recycling im sphärisch Undefinierbarem.
Viele wären noch lobend hervorzustreichen, die Tänzerinnen und Tänzer sowieso, Emanuel Gats Komplexität, Marina Giovanninis Abstraktion, Alessandro Sciarronis Kinästhetik, Xavier Le Roys Tanz als Publikumsgespräch und, und, und. Nicht zu vergessen die feierliche Zeremonie anlässlich der Auszeichnung Anne Teresa De Keersmaekers mit dem Goldenen Löwen von Venedig für ihr Lebenswerk und – quasi außer Konkurrenz – ihr Duett „Fase“ mit Tale Dolven, dem Meisterstück minimalistischer Gestik schlechthin.
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