Wir lassen's uns nicht nehmen
„Kunstraub“ von Mauro de Candia am Theater Osnabrück
Als Geburtsstunde des Tänzers gilt der erste Schritt in ein Ballettstudio. Mit der Ausbildung beginnt die Biografie des Körpers ‒ ein lebenslanger Prozess, in dem die erste Prägung unauslöschlich präsent bleibt, aber auch andere Erinnerungen auf dem Weg zu Prägung, Kontemplation und Weiterentwicklung beitragen. Rafaële Giovanola, die Leiterin des Bonner Ensembles CocoonDance, und Osnabrücks Tanzchef Mauro de Candia studierten zu unterschiedlichen Zeiten in Monte Carlo bei der legendären Russin Marika Besobrasova und profitieren bis heute davon. Ihre Zusammenarbeit mit zwei abstrakten Kurzchoreografien ist mehr als ein internes ‚Training’ mit der DanceCompany Theater Osnabrück in der Methode der Pädagogin, auch wenn der Zuschauer sich über weite Strecken fast wie ein Voyeur vorkommt bei diesen faszinierenden, sich bis zu meditativen Yoga-Übungen steigernden Körperwahrnehmungen.
Zwei berühmte Musikstücke bilden das Rückgrat des Tanzabends, die Aria aus J. S. Bachs „Goldberg-Variationen“ und der Schwan aus Camille Saint-Saëns' Zyklus „Karneval der Tiere“, zu besonderer Berühmtheit gelangt durch Fokines „Sterbenden Schwan“. Nur ganz von fern zitiert der Kölner Komponist Jörg Ritzenhoff in seinen kaum wahrnehmbaren Raumklängen gegen Ende von Giovanolas Stück „Biografia del Corpo_Fragmente“ das elegische Schwanenthema, analog zu dem Gedanken: Vergangenheit ist das klassische Ballett und doch allgegenwärtig in der Fülle zeitgenössischer Tanztechniken.
Auch das Pawlowa-Solo wird nur sehr verfremdet sichtbar. Fokines so wunderbare ‚Vogelschwingen’ sind gebrochen, die herabhängenden Arme zittern in den Schultern, statt elegantem Pas de bourrée ungleicher Tritt der Füße. Am Anfang steht das Ende des Solos: der Tod. Nach und nach treten die Tänzer aus dem Dunkeln, taumeln bis zum Fall, liegen am Boden wie Verkehrstote, von Naturkatastrophen Getötete oder friedlich in ewigem Schlaf Liegende. Robert Phillips spricht, am Boden sitzend, einen eigenen Text, der akustisch leider kaum zu verstehen ist. Er scheint auf die Biografie des Körpers als einer ‚Expedition’ anzuspielen. Mehr beobachtend, selten mitagierend mischt sich still Omar Meslem unter das zehnköpfige Ensemble ‒ ein Gast, der sich auf der Bühne ausprobieren darf und zeigen, was er aus dem parallel zu den Proben angebotenen Workshop der Kompanie mit Flüchtlingen mitgenommen hat.
Mauro de Candia spannt einen großen Bogen von seiner ersten abendfüllenden Osnabrücker Choreografie „Corpo d'anima“ zu „Biografia del Corpo_studio in divenire“. Dadurch wird die Weiterentwicklung seiner Kompanie sehr deutlich ‒ drei Jahre mehr in der Biografie ihrer Körper. Nur in ganz kurzen Ausschnitten wird Bachs Thema angespielt, wird quasi Takt für Takt eingeübt, bis schließlich die kurze Aria komplett erklingt. Kaum 20 Minuten dauert das neue Stück für vier Solisten (in der besuchten Vorstellung: David Lukas Hemm, Marine Sanchez Egasse, Amadeus Marek Pawlica und Robert Phillips) und legt noch mehr Gewicht auf den körperlichen Ausdruck als Giovanolas Choreografie. Beide präsentieren eine sehr ähnliche, ungewöhnliche Körpersprache, die einmal einzelne Gliedmaßen, Körperbereiche oder Gelenke hervorhebt, dann wieder wie eine Gummipuppe völlig gelenklos zu sein scheint.
Der intime, abstrakte Zweiteiler ist ein perfekt gelungener Doppelpass. Das Projekt wurde von der Kulturstiftung des Bundes unterstützt. Die neue, zweijährige Tanzförderung zielt auf die Zusammenarbeit von Stadttheaterensembles und Gruppen aus der freien Szene. Der Fonds trägt den Namen „Doppelpass“, genau wie Deutschlands populärste Fußball-Talkshow. Der Ausdruck beschreibt das Zuspiel eines Kickers auf einen Mannschaftskameraden, der günstig zum gegnerischen Tor steht. Im Idealfall landet der Ball im Kasten. Im kleinen emma-theater war der Applaus groß.
Ein zweites „Doppelpass“-Projekt wird folgen mit der Fortsetzung der Laien-Workshops mit jugendlichen, in Osnabrück ansässigen Flüchtlingen.
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