Wir lassen's uns nicht nehmen
„Kunstraub“ von Mauro de Candia am Theater Osnabrück
Die mythologische Symbolik um den elegantesten aller Wasservögel bietet viel darstellerischen Spielraum zu Tschaikowskys vielfache Fassungen seiner „Schwanensee“-Partitur. Osnabrücks Tanztheaterchef Mauro de Candia geht vom Schwan als Sinnbild der Seele aus und fokussiert die zweiaktige Dramaturgie ganz auf Siegfried. „Metamorphosen einer Seele“ heißt der Untertitel. Szenen und Personal sind auf ein Minimum reduziert. Weder Odette und Odile noch Rotbart und aristokratische Geburtstagsgäste treten auf. Zu erleben sind weder Ball noch „weißer Akt“. Und trotzdem ist es alles andere als eine Verlegenheitslösung für die nur zehnköpfige Kompanie mit sieben (!) Neuzugängen.
Die sehr originell und feinsinnig ausgewählten musikalischen Nummern sind dem Seelendrama auf der Bühne optimal angepasst. Das Sinfonieorchester unter GMD Andreas Hotz mit ganz vorzüglichen Solisten bei den Holzbläsern und Streichern unterstreicht die Intimität des jugendlichen Seelendramas mit geradezu kammermusikalischer Transparenz und Delikatesse. Dabei wird die theatralische Dramatik einzelner Szenen durchaus nicht ausgespart. Mit furiosem Tempo der beiden Vorspiele negiert Hotz jegliche pastose Romantik. Passagen, die nicht zu den gängigen Aufführungen des Ballettklassikers gehören, lassen aufhorchen und setzen ganz neue Akzente. Daneben ist aber doch das Schwanenmotiv omnipräsent. Die Nummer der kleinen Schwäne tanzen Siegfrieds Freunde übermütig balgend. Mit den Nationaltänzen stellen sich die drei potentiellen Bräute vor.
Nicht umsonst beginnt de Candias Inszenierung am Schwanensee. Hier, in der Einsamkeit der Natur, fühlt sich Siegfried geborgen. Auch im weiteren Verlauf vermischt der Choreograf die ursprünglich vier Akte des Balletts musikalisch, aber nie gewaltsam verfremdend, sondern sehr natürlich zwischen Stimmungen pendelnd und an einem nachvollziehbaren Handlungsstrang entlang.
Siegfried ist hier ein Heranwachsender, der lieber mit seinen Kumpels balgt als schon auf Brautschau zu gehen, wie's die Mutter verlangt. Sehr subtil weist de Candia auf das emotionale Chaos in Siegfried. Natur und Stille am See ziehen ihn in ihren Bann - bis er erkennen muss, dass die Schwäne ihn mitnichten als Teil ihrer Welt oder gar einen der ihren akzeptieren, wenn er sich unter sie mischt und mit ungelenk hochgerecktem Arm und zum Schwanenkopf abgewinkelter Hand ihre Gestalt zu imitieren versucht. Wie streitbare Amazonen in pastellfarbenen Panzern greifen sie ihn an, stupsen und treten ihn, hacken auf ihn ein, bis er tot zu Boden sinkt.
De Candia hat alle Aspekte des Klassikers in alle Richtungen hinterfragt auf seine heutige Tauglichkeit und Relevanz. Seine choreografische Handschrift ist mitunter eckig und sperrig, passt aber zu der resolut regelstrengen Mutter als Chiffre für gesellschaftliche Zwänge und verdeutlicht auch nachvollziehbar die ganz andere Bewegungsart der Schwäne im Vergleich vor allem mit Siegfried, den de Candia mit lyrischem Flair und weich schwingender Eleganz ausstattet. Marine Sanchez Egasse als Mutter und Keith Chin als Siegfried wurden diesen unterschiedlichen Techniken und ihren Rollen auch darstellerisch beeindruckend gerecht.
Die Bewusstseinsebenen, von denen Siegfried sich emotionell umfangen oder eingezingelt sieht, signalisiert auch das Raumkonzept (de Candia/ Janine Hagedorn): die Schwanenwelt wird durch einen weichfließenden, hellen, faltenreichen Vorhang-Rundhorizont angedeutet. Die Realität spielt sich in einem nüchternen, bleigrau getünchten, quadratischen Zimmer mit zwei Türöffnungen ab.
In die facettenreiche Reihe von „Schwanensee“-Interpretationen und -Bearbeitungen fügt sich Mauro de Candias Osnabrücker Version eindrucksvoll ein. Von den vielen „Schwanensee“-Fassungen, die in letzter Zeit landauf und landab auch von kleineren Kompanien präsentiert worden sind, ist dies die am konsequentesten durchdachte und schlüssigste, die ich bisher sah. Das Osnabrücker Premierenpublikum dankte dem Ensemble minutenlang mit stehenden Ovationen.
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