Platel goes Butoh
Deutsche Erstaufführung: „C(h)oeurs" bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen
"En Avant, Marche!" von Alain Platel und Frank Van Laecke als deutsche Erstaufführung
Bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen zeigt der Choreograf Alain Platel zusammen mit dem Autor und Regisseur Frank Van Laecke eine neue Produktion. In „En Avant, Marche!“ spielt das Wesen der Blaskapelle eine besondere Rolle. Dabei steht, wie so oft bei Alain Platel, die Musik im Zentrum. Aus ihr eröffnen sich im Stück weitere Bindungen, die den Menschen als Musiker, als Liebenden und Verzweifelnden zeigen. In den Figuren aber ist schließlich auch jener Hoffnungsschimmer zu sehen, der sich im Titel von „En Avant, Marche!“ ankündigt: Jenes Nach-Vorne-Streben und Weiter-Machen.
Gleich zu Beginn betritt die Hauptfigur, ein älterer Herr (Wim Opbrouck), die Bühne. Schwerfällig ordnet er seine Dinge – einen CD-Player und zwei große vom Messing glänzende Becken – um einen Stuhl herum. Er stöhnt dabei, hält sich den Rücken und atmet schwer. Endlich sitzt er und drückt den Knopf der Musikanlage. Aus dem kleinen Gerät entströmt wie aus der Ferne und in mono das Vorspiel zur Oper Lohengrin von Richard Wagner. Dazu hält der Mann in Erwartung seines Einsatzes die zwei Becken erhoben in der Hand. Doch die Ouvertüre von Wagner entwickelt erst ihr Thema und ist noch lang nicht am gewünschten Höhepunkt für das schlagkräftige Becken. So drückt der Mann ungeduldig auf den Suchlauf und bringt die Musik vorwärts bis zur ersehnten Stelle. Jetzt endlich schlägt er die Scheiben an einander, bringt ihren metallischen Klang weit in den Theaterraum und führt das Stück in seine nächste Szene. Darin er bruchstückhaft von seinem früheren Leben als Posaunist einer Blaskapelle. Sein Instrument kann er nicht mehr blasen, denn er ist vom Krebs an seinem Kehlkopf gezeichnet. Symbolhaft spricht er von jener Blume im Mund (il fiore in bocca), die auf Luigi Pirandellos Einakter vom sterbenskranken Mann verweist.
Alain Platel lässt diese Geschichte vom alten kranken Mann, der die Posaune nicht mehr spielen kann und zum Schlagen der Becken degradiert ist, um eine spezielle Auswahl von Musik kreisen. Sie selbst ist reich an Vergleichen, Symbolen und Metaphern. Darauf lässt er es aber nicht beruhen. In „En Avant, Marche!“ bindet er am Spielort seines Stücks das dort ansässige Blasorchester mit ein. Das ist Bedingung und zugleich Voraussetzung für alle weiteren Spielorte der Produktion. Zur deutschen Erstaufführung in Ludwigsburg stehen neben den Tänzern, Schauspielern und Musikern von Platel 34 Bläser der Stadtkapelle des Musikvereins Oßweil auf der Bühne. Und was mit Wagners Lohengrin, dem Gralsritter, noch vom Band anklingt, geht mit Musik von Gustav Mahler, Edward Elgars und Giuseppe Verdi in eine lebendige Blaskapellen-Dimension über. Sie spielen vom Platz auf Stühlen oder stehend im Bunde und bald als Parade im Schritt über die Bühne. Und wenn sie nicht auf ihren Instrumenten blasen, dann stimmen sie ein Lied an, so traurig und berührend zugleich. „En Avant, Marche!“ bietet alles, was auch eine Blaskappelle auf Lager hat: Festmusik oder Trauermarsch, heroische Übersteigerung oder dramatische Verklärung. Aber auch alles, was dazwischen liegt.
Am Ende des Gesamtkunstwerks löst ein Musiker das Mundstück von seinem Horn und bläst. Aus dem summenden Ton entpuppt sich die Melodie aus dem letzten Teil von Franz Schuberts Winterreise. „Der Leiermann“ aus dem romantischen Lied-Zyklus kann als Sinnbild für den Tod, aber auch für den Fortlauf des Lebens stehen. Bei Alain Platel ist es eine der wenigen Szenen, wo sich der Tanz die Bühne erobert. Der alte Mann, der ehemalige Posaunist, tanzt mit seinem Nachfolger, dem jungen Posaunisten. Aus den ungleichen Körpern – dem schweren massigen des alten Mannes und dem schlanken wendigen des Jungen gewinnt der Tanz seine Genialität und Ausdruckskraft. In den kraftvoll haltenden Armen des jungen Tänzers beginnt der ältere Körper zu schweben und zu fliegen. „En Avant, Marche!“ ist eine Liebeserklärung an die Musik als gemeinschaftliches Phänomen. Zugleich aber auch an die vielen Leidenschaften, die das Leben parat hält.
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