"Why we fight? Die Zärtlichkeit der Gewalt"
Der Choreograf Alain Platel mit seinem Filmdebüt
„Requiem Pour L.“ des belgischen Theaterberserkers Alain Platel mit seinem Partner Fabrizio Cassol erlebt seine Uraufführung im Haus der Berliner Festspiele
Alain Platel, geboren 1956 in Gent, ist seit Jahrzehnten Teil der innovativen flämischen Theaterszene mit großer internationaler Ausstrahlung. Seine Genregrenzen sprengenden Produktionen faszinieren und polarisieren Publikum wie Kritiker. Erbarmen, Mitleid und Liebe für die verkrüppelte menschliche Kreatur scheinen zentral in Platels Kosmos. Produziert von und koproduziert mit namhaften europäischen Veranstaltern touren Platels polyfone musikalische Bilderwelten regelmäßig von Festival zu Festival und gehören auch in Berlin zu den stets bemerkenswerten Produktionen. Die Zusammenarbeit von Regisseur/Choreograf Alain Platel und Komponist/Arrangeur Fabrizio Cassol, die ein großes Interesse an außereuropäischer Musik verbindet, zeichnet sich durch kühne Zugriffe auf tradierte Werke der westeuropäischen Musikgeschichte insbesondere Vokalwerke wie Bachs Matthäuspassion für „pitié!“ oder Monteverdis Marienvesper, für „vsprs.“ aus. Musiker, Sänger, Tänzer überschreiben in der Überzeichnung gleichsam eine bekannte Erzählung und ermöglichen dem heutigen Zuschauer/Zuhörer ein Ausschreiten gegenwartsnaher Assoziationsräume.
Die Berliner Uraufführung „Requiem pour L.“ ist eine Produktion von Les ballets C de la B, Festival de Marseille und Berliner Festspiele. Die Fragen des Inszenierungsteams sind existenziell: Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt? Im dramaturgisch überzeugenden Klangkonzept von Komponist Fabrizio Cassol verinnerlichen, umkreisen und sprengen vierzehn exzellente Sänger-Musiker aus Afrika und Europa (das Gros hat bereits mehrfach mit Platel zusammengearbeitet) mit ihren eigenen Kommentaren zur ewigen Ruhe Mozarts letztes Fragment gebliebenes Opus. Am Vorabend seines Todes ließ sich Mozart die Partitur des Requiems noch zum Bette bringen und sang im Quartett mit den Freunden die Alt-Stimme, nach den ersten Takten des „Lacrimosa“ (tränenreich) begann er heftig zu weinen und verstarb am frühen Morgen des 5. Dezembers 1791 in Wien; sein „Requiem“ ist ein musikalischer Torso, dessen Bruchstückhaftigkeit die Nachgeborenen stetig herausfordert.
Fabrizio Cassols schafft fließende Übergänge von den lateinischen Texten zu sprachlichen Entsprechungen in Suaheli und anderen afrikanischen Muttersprachen, die von den Interpreten in dialogischer Meisterschaft zusammen mit der akzentsetzenden Instrumentierung eine zeitgenössische musikalische Ebene des individuellen Miteinanders ermöglichen. Der Chorsatz ist durch Individuen ersetzt. Ein Trio lyrischer Opernstimmen (Sopran, Tenor, Altus) mischt sich mit dem Trio schwarzer Stimmen aus der oralen Tradition zu fulminanten musikalischen Dialogen. Im differenzierten Wechselgesang der Stimmen, der synkopierten Rufe, des Mit- und Nacheinanders von Rap, Blues und AfroPop bleibt der Einzelne mit seinem Schmerz in der Gruppe erkennbar, doch sind alle miteinander verbunden. Der musikalische Leiter und Gitarrist Rodriguez Vangama hält die Stimmen von Akkordeon, E-Gitarre, Eufonium, der Sänger, tanzenden Likembe-Spieler und des Perkussionisten bravourös zusammen, entfacht die szenisch-musikalischen Umschwünge zwischen Trauer und Freude in einem genauen Timing.
Den gesamten Bühnenhintergrund füllt der Kopf einer Frau mittleren Alters im Bett liegend mit Teddy. Sie schnalzt über die Lippen, ihre Augenlider öffnen sich schwer. Immer wieder streicht eine Hand über ihre Stirn berührt ihre Schulter. Der Tod von L. war für Alain Platel eine persönlich zutiefst erschütternde Erfahrung. Sie und ihre Familie ermöglichten ihm das Sterben filmisch aufzuzeichnen. Dieses tonlose Slow Motion Video ist für gute eineinhalb Stunden ein Kontext dieser nicht tradierten Totenfeier.
Das Akkordeon atmet und umfängt die Musiker, begleitet deren Gespräche. A cappella Gesang erhebt sich glasklar, mischt sich mit den Instrumenten in freudiger Mambo-Beschwörung. In schwarzen Gummistiefeln trotzen die Akteure in Abwehrhaltung dem „Dies irae“ sich steigernd im schwingenden Akkordeon-Walzer. Wenn das Signal des Eufoniums die Dunkelheit durchdringt, schlagen die Akteure mit der Hand auf ihre Herzen. Sie pochen im „Tuba mirium“; eine Hand streichelt das Gesicht der Sterbenden.
Alain Platel formt mit seinen Mitstreitern berührende Interaktionen von Musik, Gesang, Bewegung und Film. Oberkörper atmen, Arme säen und schlagen gegen das Schicksal an, Taschentücher tanzen. Mehrfach atmet das Akkordeon wie Meer oder Wind bis zum Atemstillstand. Die Gemeinschaft singt und tanzt für L. aber auch für sich selbst und das Publikum im Saal. Angefeuert von den Instrumentalisten geben die Stimmen im „Confutatis“ alles. Dann steht das Sänger-Sextett als Schatten vor der Leinwand, auf der das Antlitz der Frau zerfällt. Die leisen Stimmen der umherwandernden oder sitzenden Trauernden mischen sich im „Lacrimosa“; Sopranistin und Bariton falten Blüten aus weißen Taschentüchern. Als die Akteure nach dem Amen rechts und links der schwarzen Kuben Aufstellung nehmen, blickt der Zuschauer erstaunt mit ihnen auf ein Gräberfeld; der letzte Kuss der Sterbenden gilt Platel. Die Protagonisten wandeln, springen, singend und musizierend, über und um die Grabsteine. Einige liegen auf dem Rücken andere sitzen würdevoll in der Stille. Doch ihr Totengedenken feiert das Leben. Auf den Grabblöcken stampfen die Menschen gegen die ewige Ruhe an und stemmen sich aufrecht gegen die Dunkelheit.
Alain Platel, Fabrizio Cassol und ihr großartiges Ensemble zelebrieren eine leise, eindringliche Totenmesse für L. als eine Feier des Lebens. „Requiem Pour L.“ plädiert unpathetisch vielstimmig für die Freude an menschlicher Gemeinschaft bis in den Tod.
Großer Jubel für intensives Musik-Theater, ein Fest der menschlichen Stimmen und der Mitmenschlichkeit!
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments