Im Farben- und Bewegungsrausch
Olaf Schmidts tänzerische Hommage an Caravaggio
Dass eine Kleinstadt wie Lüneburg sich ein Drei-Sparten-Theater leistet, ist in Zeiten der Geldknappheit im Kulturbereich schon eine Sensation für sich. Was Olaf Schmidt dort jedoch seit zwei Jahren im Wortsinne auf die Füße stellt, nimmt schon die Dimension eines kleinen „Ballettwunders“ an. Jüngstes Beispiel dafür ist seine Version von Tschechows „Drei Schwestern“. Schmidt gelingt es hier, die Melancholie und Sehnsucht, aber auch die morbide Antriebslosigkeit des russischen Bürgertums am Vorabend des 20. Jahrhunderts in eine durch und durch überzeugende Bewegungssprache umzusetzen.
Dramaturgisch greift Schmidt zu dem Kunstgriff, Tschechow selbst als schwindsüchtigen, an seinem Stück und sich selbst stets zweifelnden Dichter durch das Stück geistern zu lassen. Er schafft damit ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Protagonisten, vor allem den drei so verschiedenen, in ihrer Gier nach einem heiteren, heilen Leben aber auch so ähnlichen Schwestern und ihren diversen Liebhabern bzw. Ehemännern. Ihm gelingen hier nicht nur wunderbar expressive Soli und Pas de Deux, sondern ebenso höchst dynamische, mitreißende Ensembles. Das ist Choreografen-Hand- und Fußwerk vom Feinsten.
Aber jede noch so gekonnte Choreografie verpufft in ihrer Wirkung, wenn sie von den Tänzern nicht adäquat umgesetzt wird. Olaf Schmidt hat dafür ein zehnköpfiges, exquisites Ensemble zur Verfügung, das nicht nur technisch makellos ist, sondern auch darstellerisch zu überzeugen vermag. Allen voran Katerina Vlasova als Mascha und Kilian Hoffmeyer als ihr Liebhaber Werschinin – beide verlassen jedoch das Lüneburger Ballett zum Ende dieser Spielzeit und wollen sich anderen Aufgaben zuwenden. Schade. Aber es bleiben ja noch die nicht minder expressive Mara Sauskat, die hier die Rolle der jüngsten Schwester, Irina, übernommen hat, und Claudia Rietschel, die schon seit 2010 zum Ensemble gehört und in den „Drei Schwestern“ die Olga verkörpert.
Und dann ist da noch Harumi Washiyama als Natascha, diese grazile Japanerin, der Olaf Schmidt ihre asiatische Identität belässt und sie mit einer geisha-ähnlichen Hochsteckfrisur auf die Bühne schickt. Heimlich, still und leise, aber zielstrebig und eiskalt reißt sie nach und nach die Macht im Haus an sich. Als sie es geschafft hat, lässt Schmidt sie ein triumphierendes Solo in Spitzenschuhen tanzen – während das Stück sonst durchgehend in Tanzsocken bestritten wird, die Bodennähe vermitteln und keine Höhenflüge zulassen.
Wallace Jones ist ein großer und körperlich gebieterischer, seelisch aber durch und durch brüchiger Tschechow; Anibal dos Santos gibt einen unterwürfigen, unsicheren und schwachen Andrej, der Haus und Besitz verspielt und seiner Frau Natascha hoffnungslos unterlegen ist. Francesc F. Marsal ist Maschas naiver, von ihr verachteter Ehemann Kulygin, ein Meister des Kopf-in-den-Sand-Steckens, während Phong Le Thanh als Tusenbach unermüdlich um Irina wirbt, und – als sie ihn endlich erhört – tragischerweise einem Duell zum Opfer fällt. Matthew Sly, ein Urgestein des Ensembles, ist der Militärarzt Tschebutykin, der es allen recht machen will, es aber niemandem recht machen kann.
Heide Schiffer El-Fouly hat den 10 Tänzerinnen und Tänzern kongeniale, wunderbare Kostüme verpasst – fließende Spitzenkleider in Schwarz (Mascha), Weiß (Irina) und Taubenblau (Olga). Nur Natascha wechselt die Farben von Rosa zu Blutrot, Violett und Türkis und zurück zu Rot – eine gelungene Spiegelung ihrer Wandlung vom simplen Stadtmädchen zur Herrscherin des Hauses. Auch die Männer stecken in schlichten, aber raffiniert-unauffällig wirkenden Kostümen.
Nicht minder großartig auch das Bühnenbild von Barbara Bloch, die mit einfachen Mitteln auf kleiner Bühne immer das passende Ambiente einzurichten vermag. Spannungsgeladen das Schlussbild, als die drei Schwestern mit dem Rücken zum Publikum langsam nach hinten verschwinden, während sich das Dach aus zerbrochenen Glasscheiben über ihnen herabsenkt – eine offenkundige Anspielung auf die Katastrophen der kommenden Jahrzehnte.
Die Musik hat Olaf Schmidt gekonnt aus verschiedenen Quellen zusammengestellt. Das Spektrum reicht von Udo Lindenberg („Moskau ist ne Wahnsinns-Halli-galli-Stadt“) und alberner Schlagermusik der 50er Jahre mit Fred Bertelsmann (!) über die minimalistische Musik Philip Glass’ und des zeitgenössischen Geigers Daniel Hope bis zum mitreißenden „Second Waltz“ von Dmitri Schostakowitsch in verschiedenen Versionen und einem wunderbar zarten Satz aus dessen Klavierkonzert Nr. 2, das Schmidt für den Liebes-Pas-de-Deux zwischen Mascha und Werschinin ausgesucht hat.
Diese „Drei Schwestern“ sind von Anfang bis Ende ein konsequent durchinszeniertes kleines Meisterwerk, dem man eine größere Bühne wünscht als die des ehemaligen Kinosaals, in dem heute das Lüneburger Theater residiert. Aber vielleicht entsteht diese überzeugende Dichte des Stücks gerade durch die Begrenztheit dieser Bühne. Und Olaf Schmidt zeigt hier einmal mehr, wie man aus der Not eine Tugend machen kann. Wie schön, dass das Werk auch in der nächsten Spielzeit gezeigt wird – ein Besuch sei wärmstens empfohlen.
Peinlich nur, dass das Programmheft bei der Inhaltsangabe des Stücks teilweise wortwörtlich aus Wikipedia abgeschrieben wurde. Das hätte die Dramaturgie doch nun wahrlich nicht nötig.
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