Schüchtern und herrisch
„Mobb“ als Solo-Klassenzimmerstück des Theater der Jungen Welt Leipzig
Kerstin Langes „Tango in Paris und Berlin“ schließt kompetent eine Wissenslücke
Auch gut 130 Jahre nach seinem vermutlichen Entstehen hat der Tango global nichts von seiner Faszination verloren. Dabei ist Tango nicht gleich Tango. Die Urform entstand im Delta des Río de la Plata, in der Vorortarmut von Montevideo und Buenos Aires, wo Zuwanderer aus Europa unter bedrängten Verhältnissen lebten. Was sie an Tanztradition mitbrachten, vermischte sich mit der Tanzkultur der angestammten Bevölkerung, sog etwa auch die kubanische Habanera auf. Im zwielichtigen Milieu dieser Halbwelt entluden sich beim Tango die sozialen und erotischen Spannungen, getanzt zunächst unter Männern, den compadritos, denen sich als Partnerinnen allenfalls Prostituierte anboten.
Leicht verständlich, dass Argentiniens Oberschicht den Tango zunächst teils vehement ablehnte, zumal auch die begleitenden Gesangstexte deftige Situationsbeschreibungen enthielten. Als Tango argentino kam diese heikle Erfindung um 1900 nach Paris, durch einreisende Argentinier, Mädchenhandel oder Touristen, die ihn amüsiert mitbrachten.
Dort stieß der Tango wohl in Cabaret und Music Hall auf reges Interesse, zog sich indes den Missmut einer Tanzlehrerschaft zu, die um ihre Vormachtstellung fürchtete, weil sie zum einen nur herkömmliche Tänze wie Walzer und Polka lehren wollte, vom Erfolg des Tango jedoch verunsichert war. Wie einen sexuell so aufgeladenen, kompliziert figurenreichen Tanz dem bürgerlichen Publikum offerieren? Nach schier endlosen, heftigst geführten Debatten glättete und domestizierte man den Tango, indem man ihm seine soziale Komponente nahm, und machte ihn so zum Tango parisien. Damit war er salonfähig geworden, übrigens zum Ärger der argentinischen Aristokratie, die ihre Kultur auf den Tango reduziert sah, den sie selbst ignorierte. Als Tango aus Paris, der seinen Höhepunkt dort vor dem Ersten Weltkrieg hatte, kam er, neben anderen Metropolen, auch nach Berlin, das sich in Konkurrenz zu Weltstädten wie London und Paris zwar behaupten wollte und musste, doch nach dem eigenen Weg als aufstrebende Großstadt suchte.
Wie dieser Kulturtransfer funktionierte, das untersucht anhand des Tango, mit den Ragtimetänzen als Nebenschauplatz, Kerstin Lange in ihrer als Buch publizierten Dissertation. „Tango in Paris und Berlin“ bietet, nimmt man den sprachlich geblähten Wissenschaftsduktus mit seinen Stereotypen in Kauf und sieht über Mängel beim Redigieren hinweg, einen überaus gründlich recherchierten Einblick, wie kulturelle Prozesse transnational ablaufen, auf wie viel Begeisterung, wie viel Widerstand sie jedoch auch stoßen. In die militante Haltung vieler deutscher Tanzlehrer zum Pariser Tango spielen Futterneid und Bedürfnis nach Selbstbehauptung, in die Attacken der Presse ganz sicher die aufgeheizte Stimmung vor dem Krieg und gegen den Erbfeind Frankreich hinein. So geriet der Tango auch politisch zwischen die Fronten, was die Verteidiger des Tango, auch sie gab es in reicher Zahl, nicht anfocht. Besonders das 80-seitige Kapitel zum „Tango in Paris“ ist ungemein informativ, das Pendant zu Berlin fällt etwas kürzer und teils weniger konkret aus, was etwa Tangopaläste wie das dreistöckige, später kriegszerstörte „Femina“ betrifft. Langes Gliederung in kürzere Kapitel und Unterkapitel gibt dem Band seine übersichtliche, gut lesbare Struktur; ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis enthält für Interessenten vertiefende Anregung nach allen Seiten hin.
Kerstin Lange: „Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900“. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, 214 S., 4 Abb., 59,99 Euro, ISBN 978-3-525-30172-2
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