Rose mit Dornen
Machtmissbrauch bei Rosas: Tänzer*innen erheben Vorwürfe gegen Anne Teresa de Keersmaeker
Wohlweislich bezeichnet Anne Teresa De Keersmaeker ihre neue Kreation für die Ruhrtriennale weder als Choreografie noch als Inszenierung. Im kargen Ambiente der Gebläsehalle des einstigen Hochofenwerks im Duisburger Norden zelebriert sie mit berührender Intensität und Demut Rainer Maria Rilkes Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ – tanzend und rezitierend. Ihre Interpretation des literarischen Kunstwerks – für zwei Tänzer, Querflöte und Textprojektion – umschreibt sie als „Literaturtanz“.
Mit gewohnter Sachlichkeit und Gedankenschärfe hat die belgische Grande Dame der geometrischen Choreografie die 28 knappen Kapitel der Prosa-Lyrik analysiert. Nicht die kurze Lebensgeschichte des jungen, ehrgeizigen Fähnrichs, die Rilke im „Cornet“ (vordergründig) erzählt und im Prolog noch ostentativ autobiografisch färbt, nimmt De Keersmaeker auf, sondern das „Feeling“, das der Dichter in sein populärstes Werk legte: „Da war nicht Krieg gemeint, da ich dies schrieb in einer Nacht. Kaum Schicksal war gemeint, nur Jugend, Andrang, Ansturm, reiner Trieb und Untergang, der glüht und sich verneint.“
Die Besetzung mit einem Tänzer (Michaël Pomero) und einer Tänzerin (De Keersmaeker) entspricht den mannigfachen Gegenpolen von Liebe und Tod, Mann und Frau, alt und jung, Kriegsheldentum und mütterlicher Trauer. Entsprechend den schwingenden, schwebenden Rhythmen von Rilkes Dichtung setzt De Keersmaeker als musikalische Unterstreichung der himmelschreienden Widersprüche im menschlichen Schicksal selbst im Angesicht des „Ernsts des Lebens“ als Kontrapunkt Flötenmusik des Italieners Salvatore Sciarrino (Jahrgang 1947 – also etwa gleichaltrig mit der Choreografin) ein – dissonante Kabinettstückchen, in denen die Virtuosin Chryssi Dimitriou nicht nur die Finger und Lippen mitspielen lässt, sondern in Presto-Sequenzen im harschen Staccato mit Zähnen auf das Mundstück hackt und mit der Zunge scharfe Schnalzer erzeugt. So „geht“ Rilke heute! Aber nicht mühelos.
Die weite, hohe, weiß getünchte Halle akzentuieren an der rückwärtigen Wand zwei riesige rechteckige Paneelen. Zunächst stürmt mit jugendlichem Ungestüm Pomero durch eine Seitentür auf die Spielfläche: minutiös akkurat hochgebundene Haare, heller Pulli, graue Gabardine-Hose, grobe Stiefel. Seine Armschwünge zielen oftmals diagonal in die Höhe oder um die Taille, als wolle er zum Kreiseln Schwung holen. Tatsächlich dreht er sich auch immer wieder, formt Spiralen, durchmisst Diagonalen, zieht mit der Seite eines Stiefels im Liegen oder mit den gespreizten Fingerspitzen Kreise in den Boden, von dem der Staub hochstiebt. Spuren und Muster bleiben zurück. Oft knicken dem Tänzer die Füße seitlich weg, der Körper verrät den Geist. Mit Rilkes Cornet verbindet den Tänzer ansonsten nur, dass er eben auch ein Mann ist. Schließlich hastet er mit großen Schritten zu einem kleinen Schaltkasten neben der Tür, knipst das Licht aus, rennt weg. Auch hier doch auch so ein Gegensatz zum tragisch heldenhaften, unbewaffneten jungen Soldaten, der unter zwölf strahlenden Säbeln sein Leben läßt.
In der lautlosen Finsternis werden die ersten zehn Kapitelchen des „Cornet“ auf Deutsch und Englisch auf die Paneelen projiziert. Eine Viertelstunde Stille. Zeit zum Lesen oder Nachdenken, in der nur jeder Zuschauer leise liest. So wird auch das Publikum einbezogen als aktiver Partner der Aufführung und Gegenpol zu der sorgfältigen Dramaturgie der Aktionen auf der Bühne. Noch im Dunkeln huscht die zierliche Flötistin herein, steht vor der ersten Tribünenreihe und setzt zu ihrem virtuosen Furioso an. Spätestens jetzt weiß jeder, dass es hier um hohe Kunst für unsere Zeit geht.
Danach tanzen De Keersmaeker und Pomero gemeinsam – mal synchron, mal disparat. Und irgendwann erhebt De Keersmaeker, atemlos, ihre Stimme, um Rilkes gleichzeitig projizierte Zeilen zu rezitieren. Mit tiefer Stimme, nur gelegentlich dramatisch, nie larmoyant. Atemraubend. So ehrlich. Natürlich sind diese Minuten der Höhepunkt einer außergewöhnlichen Premiere der diesjährigen Ruhrtriennale. Der zögerliche Applaus klang erschöpft, ratlos und sehr respektvoll.
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