Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Die Parallelität war fast schon gespenstisch, die sich bei der Premiere am vergangenen Sonntagabend aufdrängte: am 16. Dezember 2001 stand die schon lange für diesen Zeitpunkt terminierte Uraufführung noch ganz unter den Erschütterungen des 11. September, bei der Wiederaufnahme nach elf Jahren jetzt unter dem Schock der German-Wings-Katastrophe, die sich erst wenige Tage zuvor ereignet hatte. Die „Winterreise“ ist wie geschaffen für die Nachdenklichkeit, die sich im Zusammenhang mit solchen Katastrophen unter den Menschen ausbreitet. Zu diesem Bezug zu aktuellen Ereignissen, die die Welt erschütterten, sagte Neumeier 2001: „Es ist der Verlust des Vertrauten und auch vielleicht des Vertrauensvollen, den wir so stark spüren, damals wie heute. Irgendwie ist es, als fühle man Symptome, aber kenne die Krankheit nicht. Die ‚Winterreise’ konfrontiert uns mit einer sehr extremen Form von Exil: dem Exil in sich selbst, verloren gegangen zu sein, mitten in der Welt.“
Und so war es auch bezeichnend, dass es mehrere Sekunden dauerte, bis der Schlussapplaus losbrach, nachdem sich der Vorhang über der Szenerie gesenkt hatte, und es ist ja gerade dieses Innehalten des Publikums, das zeigt, dass ein Stück die Zuschauer ganz und gar ergriffen hat – mithin das größte Kompliment, das ein Auditorium einem Künstler machen kann.
Tatsächlich ist die „Winterreise“ eines von Neumeiers dichtesten Werken, gerade weil es so reduziert ist, weil es ganz und gar auf das Wesentliche in der Bewegung zurückgenommen und so gar nicht auf Effekte aus ist. Und gerade deshalb berührt es den Zuschauer auch bis ins Innerste und fügt es sich kongenial in die spannende Interpretation Schuberts Musik durch Hans Zender und ebenso in das geniale Bühnenbild von Yannis Kokkos, der auch für die schlichten Kostüme verantwortlich zeichnet. Zender arrangierte den 24-teiligen Liederzyklus als eigenständiges Werk, verwendet neben Streichern und Bläsern auch Akkordeon, Gitarre und diverses Schlagwerk, was die Ecken und Kanten, die Rauheit, das Zornige, aber ebenso das Liebliche, Leichtfüßige in Schuberts Komposition fast noch stärker heraushebt als es der Liedgesang allein vermag.
Die Choreografie folgt dieser Vorgabe auf eigenen Wegen – und die TänzerInnen des Hamburg Ballett werden dem aufs Feinste gerecht. Allen voran Aleix Martínez, der den großen Solopart übernommen hat, den 2001 Yukichi Hattori so einzigartig mit kreiert hat. Aleix Martínez gibt dieser Rolle eine jugendliche Frische, aber auch eine melancholische Schwere, und dank seiner brillanten Technik eine präzise und ausdrucksstarke Bewegungsfülle. Nicht minder großartig die anderen SolistInnen: Silvia Azzoni, Hélène Bouchet, Leslie Heylmann, Emilie Mazon, Lucia Rios, Anna Laudere, Alexandre Riabko, Otto Bubenicek (der leider zum Sommer seine Tänzerkarriere beenden wird), Florian Pohl, Konstantin Tselikov, Carsten Jung. Auffallend schlicht und gerade deshalb so eindrücklich: Hayley Page mit ihrer feinen und edlen Linie. Lloyd Riggins übernahm in der ihm eigenen Souveränität und Intensität den Part des „anderen“, „auf dem WEG“ Befindlichen bzw. des „Leiermanns“, den seinerzeit Neumeier selbst getanzt hat.
Schade nur, dass der Gesang des Tenors Rainer Trost so gar nicht diesem Niveau gerecht wurde – weder in der Artikulation der Texte, die kaum verständlich waren, noch in Phrasierung und Ausdruck. Das war aber auch der einzige Wermutstropfen in dieser zum Schluss mit viel Beifall und Standing Ovations für den Choreografen bedachten Vorstellung.
An dieser Stelle soll auch einmal die Gestaltung des exzellenten Programmheftes herausgehoben werden. Hier hat Holger Badekow wieder einmal ein Meisterwerk geschaffen, das viele wichtige Informationen zu Choreografie, Musik und Bühnenbild bereithält und gleichermaßen großartige Fotos aus 2001 und 2015.
Weitere Aufführungen am 12. April (nachmittags und abends), 16. April und 9. Juli 2015. www.hamburgballett.de
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