Ein überfälliges Thema
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Patrice Bart choreografiert sein Lieblingsballett „Giselle“ in Zürich
Am Anfang stand ein Text von Heinrich Heine. Sein französischer Schriftsteller-Kollege Théophile Gautier schrieb ihm: „Als ich vor einigen Wochen ihr schönes Buch über Deutschland durchblätterte, fiel mir die bezaubernde Stelle auf, wo Sie von Elfen in weissen Gewändern mit stets taufeuchtem Saum, von Nixen erzählen, die mit ihren kleinen Atlasfüssen an der Decke der Hochzeitskammern entlang laufen, und die schneeweißen Wilis beschreiben, denen Sie am Ilsefluss im Harz begegnet sein mögen, im vom deutschen Mondlicht mild beschienenen Nebel. Und ungewollt sagte ich mir: Wäre das nicht ein hübscher Ballettstoff?“
Die Fortsetzung ist bekannt: Gautier und zwei Mitarbeiter schufen ein Libretto, Jean Coralli und Jules Perrot setzten es in eine Choreografie um – und diese wurde unter dem Namen „Giselle ou Les Wilis“ 1841 an der Pariser Oper uraufgeführt. Mit rauschendem Erfolg.
Giselle stirbt an gebrochenem Herzen, weil ihr bäuerlicher Geliebter sich als verkleideter Herzog Albrecht entpuppt. Der ist schon längst mit der standesgemäßen Bathilde verlobt. Im zweiten Teil, einem jener weissen Akte, wie sie regelmässig in den klassisch-romantischen Balletten des 19.Jahrhundert vorkommen, wird Giselle von den Wilis aus dem Grab geholt: Den zu Geistern gewordenen betrogenen Jungfrauen, die nachts im Wald hinter Männern herjagen und diese solange zum Tanzen zwingen, bis sie tot umfallen. Die Wilis tragen wadenlange weiße Gazeröcke und Schleier über dem Gesicht, die der Wind bald einmal durch den Wald davonträgt (Bühnenbilder und Kostüme: Luisa Spinatelli).
Bart, der „Giselle“ neu für das Ballett Zürich choreografiert hat, kann auf die magische Ballettmusik von Adolphe Adam aufbauen: Tänzerisch beschwingt gespielt von der Philharmonia Zürich unter Ermanno Florio. Der Choreograf hält sich eng an die ursprüngliche Coralli-Perrot-Ballettfassung in Paris; die von Marius Petipa in St.Petersburg initiierten Änderungen schätzt er weniger. Wobei Bart betont, er passe die Szenen stimmungsmässig den jeweils zur Verfügung stehenden Tänzerinnen und Tänzern an. Und natürlich hat er den Stil von der Klassik zur Neoklassik weiter entwickelt.
50 Jahre lang wirkte der 70-jährige Patrice Bart an der Pariser Oper. Er stieg vom Elèven zum Etoile auf, war Ballettmeister, Assistent von Rudolf Nurejew, Berater der Direktion – und wurde auch Choreograf. Eigene Werke waren z.B. „Verdiana“ für das Staatsballett Berlin (1997) oder „La petite Danseuse de Degas“ für die Pariser Oper (2003). Berühmt wurde er aber hauptsächlich durch Neufassungen der großen Ballette des 19.Jahrhunderts. Wobei „Giselle“ sein Lieblingswerk ist.
In Zürich tanzte an der Premiere Yen Han die Titelrolle – voll mädchenhaftem Charme und tänzerischer Finesse. Dabei ist die US-Chinesin schon über 40; sie hat die Giselle bereits in Heinz Spoerlis Zürcher Fassung von 1998 gespielt. Besonders im ersten, farbigen Akt im Bauerndorf ist Yen Han voller Esprit und Verve. Im zweiten, weißen Akt steigt sie dann kreidebleich aus dem Grab und versinkt erneut darin, nachdem sie den treulosen Geliebten vor der Rache der Wilis gerettet hat.
Als Albrecht tritt Denis Vieira auf – erst seit kurzem in Zürich und möglicherweise ein aufsteigender Star. Er bewegt sich im dörflichen ersten Akt mit leicht herrischer Arroganz, im weissen zweiten Akt voll tiefer Reue. Gut aussehend, technisch versiert, in den Pas de Deux ein zuverlässiger Partner – nur in den Solovariationen wirkt er gelegentlich noch angestrengt. Große Klasse ist auch sein Gegenspieler Filipe Portugal als Wildhüter Hilarion. Der Choreograf hat ihm im ersten Akt viel Pantomime verpasst, die Portugal aber elegant in Tanz übergehen lässt. Im zweiten Akt verblüfft er durch die virtuosen Sprünge, mit denen er sich vor den Wilis retten will. Vergeblich, sie treiben ihn in den Abgrund.
Das Ballett Zürich unter Christian Spuck ist eine klassische Kompanie, die sich stark aufs Zeitgenössische ausrichtet. Kommt da die Danse d‘école nicht zu kurz? Offenbar nicht. Man staunt, wie leichtfüssig-synchron die Gruppentänzerinnen, darunter auch Mädchen des Junior-Balletts, im weißen Akt die Wilis verkörpern. Bis hin zu den gefürchteten, geometrisch ausgerichteten Arabesques.
Arman Grigoryan und Galina Mihaylova glänzen im großen Bauern-Pas-de-Deux, während Viktorina Kapitonova als gnadenlose Königin der Wilis das Publikum begeistert. Mihaylova und Kapitonova werden in späteren Aufführungen auch die Titelrolle tanzen, abwechselnd mit Yen Han. Und zweimal treten gastweise Polina Semionova und Friedemann Vogel als Giselle und Albert mit dem Ballett Zürich auf.
Fussnote: Die Premiere am Opernhaus Zürich fand am 28.März 2015 statt. Auskunft über die jeweiligen Besetzungen gibt www.opernhaus.ch
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