Ein überfälliges Thema
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Das romantische Handlungsballett in der Choreografie von Patrice Bart beim Ballett Zürich – eine Augen- und Ohrenweide
Immer wieder „Giselle“! Die Geschichte vom Bauernmädchen, das sich in einen jungen Mann verliebt und von ihm umworben wird – bis sich herausstellt, dass Albrecht, ihr Verehrer, ein verkleideter Herzog ist samt einer standesgemäßen Verlobten zuhause im Schloss. Die verzweifelte Giselle stirbt an gebrochenem Herzen.
Im 2. Akt dieses Balletts, das zur mitreißend-farbigen Musik von Adolphe Adam 1841 in Paris uraufgeführt wurde, steigt Giselle aus dem Grab. Sie gehört nun zu den Wilis, betrogenen Bräuten in weißen Schleierröcken, die nachts durch den Wald schwärmen und alle Männer, die ihnen begegnen, tanzend zu Tode hetzen. Giselle rettet Albrecht, weil sie ihn immer noch liebt. Doch am Morgen nach durchtanzter Nacht versinkt sie wieder in der Erde und lässt den Herzog mit weißen Blumen im Arm trauernd am Grab zurück.
Begeisterung für das romantische Ballett
Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu – auch im Spielplan jener Ballett-Ensembles, die sich den Aufwand leisten können und die entsprechenden Talente besitzen. Beim Ballett Zürich ist beides der Fall. In der traditionell-romantischen „Giselle“-Choreografie von Patrice Bart legen sich die Tänzerinnen und Tänzer voll ins Zeug. Das Publikum applaudiert nach jedem Solo und ist am Schluss total begeistert und bewegt.
Durchaus zu Recht. Das Ballett Zürich, das sich sonst eher zeitgenössisch profiliert, kann auch klassisch-akademisch! Brandon Lawrence als Herzog Albrecht überzeugt vor allem im 2. Akt als trauernder Ex-Geliebter. Im atemlosen Kampf ums Überleben, bei dem ihm Giselle beisteht, übertrumpft er sich selbst mit seinen Sprüngen, Doubles Tours, Entrechats und vergeblichen Kniefällen vor Myrtha, der gnadenlosen Königin der Wilis. Elena Vostrotina tanzt sie mit der geforderten eisigen Kälte, technisch präzis wie im Lehrbuch, eine Spitzenleistung auf Spitzen.
Karen Azatyan als Wildhüter Hilarion, der Giselle ebenfalls liebt und Albrecht hasst, hat eher wenig Tanzauftritte. Diese beherrscht er jedoch rasant. Trotz aller Fluchtversuche vor den Wilis jagen sie ihn im Wald zu Tode. Bewundernswert die 16 Wilis, die in gleichförmig koordinierten Arabesques über die Bühne schweben, eine echte Gemeinschafts-Leistung.
Und Giselle? Ihre Rolle wird getanzt von Max Richter, einem Ballett-Mitglied aus den USA, das sich selbst als nonbinär bezeichnet, aber optisch klar als junges Mädchen erscheint. „Ich verändere mich jeden Tag, und wenn ich aufwache, entscheide ich, was ich anziehen will – egal, ob das nun etwas Superweibliches oder etwas eher Männliches ist“, sagt Richter in einem Interview. Max Richter sei klar geworden, dass Max der eindeutigen Zuordnung zur Kategorie „sie/ihr“ nicht entspreche. Deshalb sei aus dem geschlechtsneutralen Vornamen Mackenzie fast automatisch Max geworden. Im Ballett „Giselle“ wird Max Richter aber eindeutig als junges Mädchen wahrgenommen. Im 1. Akt gibt Richter eine anmutige, später verzweifelte, im 2. Akt eine jenseitig wirkende Giselle, (tanz-) verliebt von Anfang bis Ende. Anrührend. Das klassische Tanzvokabular beherrscht Richter perfekt, die Variationen strahlen. Das Publikum liebt Richter.
Cathy Marston, die Chefin des Balletts Zürich, unterstreicht mit der Förderung von Max Richter Diversity auf der Bühne. Und auch die ethnische, dies allerdings schon lange bei vielen Tanzensembles weltweit. In Zürich tanzen der dunkelhäutige, äußerst virtuose Wei Chen und die hellhäutige Nancy Osbaldeston den Bauern-Pas-de-deux im 1.Akt ganz selbstverständlich miteinander. Und auch Brandon Lawrence – Herzog Albrecht – hat einen fremdländischen Einschlag.
Patrice Bart beruft sich auf die Tradition
„Giselle“ in der Choreografie von Patrice Bart, der 2025 achtzig Jahre alt wird, erscheint im Spielplan des Zürcher Opernhauses in der Kategorie „Wiederaufnahmen“. In der Tat hat die eigentliche Premiere schon 2015 stattgefunden, noch unter der Direktion von Christian Spuck. Alle Rollen sind jetzt aber mit neuen Tänzer*innen besetzt – daher trotzdem das Premieren-Feeling.
Patrice Bart, der Choreograf, hat eine lange, erfolgreiche Karriere beim Ballett der Opéra de Paris hinter sich. Vom Eleven über die Zeit als Etoile bis zum Ballettdirektor und Vertrauten von Rudolf Nurejew. Anders als die vielen Choreografen, die „Giselle“ seit der Uraufführung 1841 umgedeutet haben, beruft er sich auf die Tradition. Während ein Mats Ek 1982 das verzweifelte Dorfmädchen nicht zu den Wilis im Wald schickte, sondern in die Irrenanstalt, studierte Bart die Quellen: Théophile Gautier, der auf Anregung von Heinrich Heine das Libretto schuf, sowie die Choreografie von Jean Coralli und Jules Perrot, die von Anfang an sehr erfolgreich war. Sie ist aber nur bruchstückhaft und nicht schriftlich überliefert.
Zum Dauererfolg des „Giselle“-Balletts gehört die Musik von Adolphe Adam: In kurzer Zeit entstanden, aber genial einprägsam. Sie ist insofern schlicht, als sie das Geschehen auf der Bühne ganz direkt untermalt. Doch ihre bezaubernden Oboen-, Harfen- und Violaklänge setzen sich in den Ohren der Zuhörer*innen fest, die Melodien verfolgen einen stundenlang. Die Philharmonia Zürich unter der souveränen Leitung des balletterprobten Ermanno Florio machte diesen Genuss möglich.
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