Körper pur – gibt’s das?
Tanzbiennale Heidelberg: Die Compagnie Alias zeigt „Antes“ von Guilherme Botelho
Zum zehnten Mal fanden dieses Jahr die Zeitgenössischen Schweizer Tanztage statt. Eine Biennale, die in verschiedenen Städten durchgeführt wurde, von Genf über Lausanne bis Luzern und Basel. 2015 war zum zweiten Mal Zürich an der Reihe. Der Anlass bildet einerseits eine Leistungsshow für das Schweizer Tanzpublikum, anderseits eine Plattform für ausländische Agenten und Talentsuchende.
„Was ist hier noch oder nicht mehr Tanz? Ist das schon Performance oder sogar Theater?“ Diese Frage habe ihren Auswahlprozess ständig begleitet, berichtet die Jury (Roger Merguin, Nicole Seiler, Laurent Vinauger, Julia Wehren, Georg Weinand). Am Ende kamen von 130 Bewerbungen 14 zum Zug. Lauter unkonventionelle Produktionen, vom „echten“ zeitgenössischen Tanz bis zum Bewegungstheater. Mit oder ohne Sprache, ernst oder – häufig – mit Humor gespickt.
Nicht Tanz im engeren Sinn, sondern Performance bieten Simone Aughterlony und Antonija Livingstone in „Supernatural“. Hahn Rowe begleitet sie dabei live mit elektronisch verfremdeten Geigen-, Gitarren- und anderen Klängen. Die Frauen sind bodenständig, hacken Holz, flicken Seile, wirken wie bewegte Bilder à la Hodler. Dazwischen legen sie sich zur Ruhe, ziehen sich aus und später wieder an. Alles sehr naturalistisch, witzig-ironisch und überaus friedlich. Man ist irritiert und findet es am Ende doch schön.
Im Stück „Les Animaux“ der Cie Nuna unter YoungSoon Cho Jaquet spielen und tanzen sowohl Profis als auch Laien. Die achtköpfige Kerngruppe verkleidet sich immer neu und erinnert dabei an Tierrudel. Bei gescheckten Trikots denkt man an Zebras, bei den weissen Turnkleidern an Schwäne, und wenn die Tanzenden nackt auf dem Boden herumkriechen, kommen einem Seehunde in den Sinn. Oder so ähnlich. Geräusche von Wind oder Wasser begleiten die Metamorphosen. Gleichzeitig schlängelt sich immer wieder eine Menschenschlange in Alltagskleidern – zwölf Frauen, ein Mann – zwischen den Gruppen hindurch. Zoobesucher vielleicht. Eine eher harmlose, aber sehr hübsche Choreografie, geeignet zum Beispiel für eine Tanzschulaufführung.
Die Multimedia-Produktion „Shiver“ von Nicole Seiler – in Zürich geboren, in der Westschweiz verankert - spielt sich bis zu Schluss im Halbdunkel ab. Videoprojektionen hüpfen über Vorhang und Bühne, Blut oder Lava stösst langsam auf dem Boden vor. Fasziniert verfolgt das Publikum diese Szenen, die an Geisterbahn, Mummenschanz oder an Szenen aus „Alice im Wunderland“ erinnern. Oft weiss man nicht, ob eine unförmige Ansammlung auf der Bühne aus totem Material oder lebendigen Wesen besteht. Erst am Schluss erkennt man einigermassen deutlich vier nackte Menschen, drei Frauen und einen Mann.
Nackte Menschen tauchen in sehr vielen Produktionen dieser Tanztage in Zürich auf, ohne dass bei der Programmierung offiziell entsprechende Vorgaben geherrscht hätten. In Seilers „Shiver“, YoungSoon Chos „Les Animaux“ oder Aughterlonys „Supernatural“ geschieht das Auskleiden nebenbei und wie selbstverständlich – entsprechend schaut man diese Wesen, Männlein und Weiblein, zwar gern und neugierig an, denkt dabei aber kaum an Pornografie. Im Programmheft stösst man im Zusammenhang mit Aughterlony auf die originelle Wortschöpfung „postpornografisch“ – in Assoziation zur im letzten Jahrhundert entwickelten tänzerischen Postmoderne.
In Guilherme Botelhos „Antes“ mit der Genfer Cie Alias herrscht dann Nacktheit pur. Eine gute Stunde lang liegen, kauern, stehen und bewegen sich fünf Männer und sieben Frauen völlig unbekleidet auf der hell beleuchteten Bühne. Botelho knüpft dabei an sein Erfolgsstück „Sideaways Rain“ (2010) an, wo ebenfalls lauter Nackte pausenlos von links nach rechts über die regenverhangene Bühne rennen, in ständig sich verändernden Details. „Antes“ zeigt eine frühere Phase der Menschwerdung, hin zum aufrechten Gang. Die Tanzenden bewegen sich in synchronem Ritual, alle für sich allein. Erst am Schluss bilden sie einen verschlungen-plastischen Knäuel mit kopfüber nach unten fallenden Menschen. Höllensturz oder Orgie? Jedenfalls sehr eindrücklich.
Halb bekleidete, aber keine nackten Menschen kommen in „La Nuit Transfigurée“ der Cie Philippe Saire vor. Dafür viel spannender zeitgenössischer Tanz ohne Drum und Dran. Saire ist gewissermassen der Doyen der freien Szene in der Schweiz. Seine Gruppe hat er vor fast 30 Jahren gegründet, wobei die Mitglieder häufig wechseln, und mit dem Théâtre Sévelin 36 in Lausanne bietet er seit 20 Jahren eine Plattform für eigene oder fremde Produktionen.
„La Nuit Transfigurée“, schon 2012 entstanden, baut auf das Streichsextett „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg sowie das Konzert für zwei Violinen in a-moll von Antonio Vivaldi auf. Dass Saire zu abgeschlossenen Musikstücken choreografiert, ist ungewohnt. Vier Männer und eine Frau bewegen sich auf der zuerst dunklen Bühne, Beziehungen entstehen und brechen wieder ab, die Frau fühlt sich hin- und hergerissen, liegt einmal wie tot am Boden und wird von einem der Männer abgeschleppt. Genaueres lässt sich über den Inhalt nicht sagen. Vor allem deutet wenig auf jenes schwülstige Gedicht von Richard Dehmel hin, auf das sich Schönberg in seiner Komposition bezieht: Da gesteht eine Frau ihrem Liebsten, dass sie von einem Anderen schwanger ist: „Ich trag ein Kind, und nit von dir.“ Doch der Mann „fasst sie um die starken Hüften“ und anerkennt das Ungeborene als sein eigenes … Gefühliger Tanz, der diesem Gedicht entsprechen würde, steht Saire fern. Er ist ein eher intellektueller Choreograf.
Schillernd und aufregend ist seine „Nuit Transfigurée“ trotzdem. Man fühlt sich in einen Wald versetzt. Am Bühnenhimmel hängen Hirschgeweihe, die später zu Boden sinken. Wenn am Schluss der Freund der Frau exakt unter einem solchen Geweih steht, assoziiert man damit einen „Gehörnten“ (Betrogenen). Aber auch das ist nicht sicher bei Saire: Vielleicht will er auch sagen, dieser Mann sei toll - ein Hirsch!
Bei den Swiss Contemporary Dance Days sind jeweils nicht nur einheimische Choreografen zugelassen, sondern auch ausländische Künstlerinnen und Künstler, die schon länger in der Schweiz kreativ sind. Gäbe es diese Regelung nicht, hätte weder die aus Neuseeland stammende Simone Aughterlony noch die Koreanerin YoungSoon Cho Jaquet noch der Brasilianer Guilherme Botelho mit ihren Ensembles am Festival teilnehmen können. Für die in den Gruppen engagierten Tänzerinnen und Tänzer gibt es ohnehin keine Passvorschriften.
Die französische Schweiz war an den Swiss Contemporary Dance Days prominenter vertreten als die Deutschschweiz. Das ist nicht neu, hängt unter anderem mit der Nähe Frankreichs zusammen, wo der freie Tanz einen höheren Stellenwert als in Deutschland oder Österreich besitzt. Dafür haben Institutionen aus der Deutschschweiz und speziell aus Zürich die vier Tanztage glorios organisiert und eine tadellose Infrastruktur zur Verfügung gestellt.
19.-22.2.2015 in Zürich. www.swissdancedays.ch
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