„What The Body Does Not Remember“ von Wim Vandekeybus. Tanz: Ensemble

„What The Body Does Not Remember“ von Wim Vandekeybus. Tanz: Ensemble

Ein Stuhl als Fremdkörper und Stepptanz auf Socken

„Coincidance“: Drei Stücke von Wim Vandekeybus, Richard Siegal und Simone Sandroni aus drei Jahrzehnten

Es ist fabelhaft, dass es Simone Sandroni gelang, drei unterschiedliche ‚Marksteine’ aus der Vielfalt zeitgenössischer Tanzkunst in Ost-Westfalen zu präsentieren.

Bielefeld, 23/01/2016

Nein, es ist kein Zufall, dass Dmitri Schostakowitschs berühmtestes Streichquartett, Nr. 8 in c-moll opus 110, so unüberhörbar das Hauptthema von Bachs „Kunst der Fuge“ (B-A-C-H) imitiert. Es erklingt hier auf die Töne D-S-C-H und steht für Dmitri Schostakowitsch. Ganz persönlich für sich selbst schrieb der Russe dieses Meisterwerk 1960 innerhalb weniger Tage, schwer krank, während eines Aufenthalts in Deutschland - als eine Art wehmütiges Requiem auch auf das Ende seiner künstlerischen Freiheit: die sowjetische Regierung hatte gerade seinen Beitritt zur Kommunistischen Partei erzwungen.

Überhaupt ist (fast) gar nichts zufällig an diesem zweiten Bielefelder Tanzabend des neuen Tanzchefs Simone Sandroni - also auch der Titel „Coincidance“ (coincidence = Zufall) nicht etwa ein Schreibfehler. Hier geht's so richtig zur Sache mit dynamischem zeitgenössischen Tanz aus drei Jahrzehnten. Gemeinsam ist den drei Stücken vor allem der Dialog zwischen Tanz und Musik als gleichwertigen Partnern. Staunen macht die Ausstrahlung und technische Versiertheit der neu formierten Kompanie.

Für seine ehemalige Truppe Déjà Donné choreografierte der Italiener „Unstable Element“ für vier Tänzer zu Schostakowitschs Quartett. Zu schade, dass - im Gegensatz zur Uraufführung - auf der Bühne des ehemaligen Bielefelder Fabrikgebäudes die Musiker nicht neben den Tänzern live auftreten. Die lange vor Beginn durch den ganzen Raum wabernden Nebelschwaden sind für manche Zuschauer belastend. Sie geben dem Raum aber, wie auch die aufgefächerten Strahlenbündel in wechselnden Färbungen, im Verlauf des Tanzstücks eine stimmungsvolle Naturästhetik. Unterschiedlichste Formationen als Gruppe, Paar oder Solo fangen in staunenswerter Weise die Atmosphäre, Eleganz und rhythmisch facettenreiche Eloquenz der Musik ein. Vor allem in den Soli zeigen sich die unterschiedlichen Charaktere und Ausdrucksweisen der Tänzer. Für den jungen Japaner Sho Takayama ist sein grandioser Auftritt anscheinend wie ein befreiendes Erwachen, nachdem er zuvor in der Gruppe zurückhaltend, gar ein wenig unsicher gewirkt hatte. Elvira Zuñiga Porras begeistert mit weit ausladenden, weichen Gesten und raumfüllenden, wie schwebenden und doch ganz geerdeten Schritten. Eckig, gleichsam wortkarg distanziert wirken die Bewegungen von Gianni Cuccaro. Überraschend athletisch gibt sich, bei allem lyrischen Ausdruck, die zarte Chiara Montalbani.

Mit Entertainment pur überrascht anschließend der Mittelteil des Abends. Richard Siegals „The New 45“ von 2006 (eine Anspielung auf sein eigenes Alter am Beginn der zweiten Karriere als Choreograf?), einstudiert von Ayman Harper, ist ein hinreißender ‚Ausreißer’ im intellektuellen, Sparten übergreifenden Oeuvre des ehemaligen Forsythe-Tänzers. Auf Swing- und Jazz-Klassiker seiner US-amerikanischen Heimat hat Siegal die halbstündige Folge von tänzerischem Slapstick à la Chaplin komponiert, die an Witz und Entertainment auf deutschen Tanzbühnen Ihresgleichen sucht. Da sprechen Grimassen zwischen Pfiffigkeit, Koketterie und Weltschmerz-Lamento Bände. Gleichzeitig kitzeln blitzschnell wippende, wedelnde Hände, winzige oder übertriebene Hüftschwünge und Kopfwendungen, hochgezogene Schultern, zitternde Körper und Stepptanz auf Socken das Zwerchfell. Vorwiegend paarweise treten die vier Charaktere in weißem Overall (Saori Ando), blauem (Tommaso Balbo), gelbem (Joris Bergmans) und rotem Trainingsanzug (Johanna Wernmo) auf, legen tänzerische und komödiantische Körperkunststückchen aufs Parkett, die das Publikum bei der Premiere zu Lachsalven und Ovationen hinrissen.

Bizarr wurde es nach der Pause. „What the Body Does Not Remember“ nannte Wim Vandekeybus 1987 eine seiner ersten Choreografien, als in Europa gerade erst ganz neue Tanzsprachen entstanden und zumal belgische Choreografen radikal Neues - Alltägliches eben - auf die Tanzbühne brachten. Dass jemand (Tommaso Balbo) vergessen hat, wie man einen Stuhl hinstellt und benutzt, macht heutzutage - wo Alzheimer allenthalben präsent ist - betroffen, zumal wenn dann andere kommen und sich ganz normal auf ihren Stuhl setzen, relaxen, schmusen, zum Gruppenbild posieren. Die ulkigen Eskapaden und zirzensischen Balanceakte, die Balbo mit dem vierbeinigen Möbel vollführt, reizen aber auch ordentlich die Lachmuskeln - bis sich der Tänzer während der Premiere bei einer Wurfnummer arg mit einem Stuhlbein im Gesicht verletzte. Ein böser, unvorhergesehener Zu-, nein leider Unfall.

In einer zweiten Szene wird bestialischer Drill zelebriert. Auf ein beleuchtetes Pult hämmert eine Domina wie auf ein Xylophon-ähnliches Instrument Kommandos für zwei Männer, die auf dem Boden liegen, der mit Lichtprojektionen wie ein Blatt Notenpapier liniert ist. Ihren Rhythmen und den Handzeichen entsprechend heben, senken, rollen sich die beiden zu yogaähnlichen Figuren. Was für Chiffren für die Knochenarbeit beim Tanztraining! Irgendwann schließlich versinkt das tänzerische Martyrium im Dunkel. Das löst bei den ebenfalls erschöpften Zuschauern eher Erlösung denn Zufriedenheit über das abrupte, offene, deprimierende Ende aus. Freudige Überraschung besänftigte die Gemüter: Vandekeybus war eigens zur Premiere angereist und verbeugte sich mit dem Team. Ein Ritterschlag vor allem für die Tänzer.

Es ist fabelhaft, dass es Simone Sandroni (der übrigens zur Uraufführungsbesetzung des letzten Stücks gehörte) gelang, drei derart charakteristische Marksteine aus der Vielfalt zeitgenössischer Tanzkunst in Ost-Westfalen zu präsentieren.
 

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