Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Choreografischer Nachwuchs des Stuttgarter Balletts und tänzerischer Nachwuchs der John Cranko Schule präsentieren sich in zwei unterschiedlichen Abenden
Der Nachwuchs hat mich immer schon interessiert und erst recht, als ich bei der Bundesagentur für Arbeit schlaflose Nächte hatte, weil ich für so viele Absolventen (ca. 100 pro Jahr aus zehn Schulen) kaum eine Chance sah, dass sie nach dieser Ausbildung ihr täglich Brot verdienen können. Daran hat sich leider nicht viel verändert, denn der Markt ist nicht ergiebiger geworden. Die Ansprüche der Direktoren und Choreografen sind noch höher geworden, weil die Vielseitigkeit zumindest an den großen Kompanien noch gewachsen ist. Die Anzahl entspricht zwar in etwa den Vakanzen pro Spielzeit derer, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen aufhören, aber die wenigsten Leiter eines Ensembles wollen Anfänger engagieren.
Die zahlenmäßig großen Kompanien, vor allem, wenn eine Schule angeschlossen ist, entwickeln allerdings einen ganz eigenen Ehrgeiz, ihre Zöglinge auch im Profibereich dann bis zur Blüte zu bringen. Das war schon bei Tatjana Gsovsky so und an der Staatlichen Ballettschule Berlin, als Martin Puttke wie auch Constanze Vernon bei Wettbewerben vor vielen Jahren Medaillen einsammelten. John Cranko war vorbildlich in dieser Weise und so wie sein Geist nach wie vor im Stuttgarter Ballett Vorbild ist, ist auch die Schule auf einem Niveau, das ihm Freude machen würde und auch die Talentschmiede „Noverre-Gesellschaft“ lässt Nachwuchs nicht nur erahnen.
Das neue Programm, das zum ersten Mal Rainer Woyhsik ohne Fritz Höver, den Gründer der „Noverre Gesellschaft“, zu verantworten hatte, hätte auch ihn mit Genugtuung erfüllt. Erstaunlich professionelle Arbeiten waren dabei. Vielleicht zu viele, aber kann das sein? Insgesamt waren es 13 Titel, die das Programmheft mit Kurzbiografien enthält. Nicht jedes Jahr sind so viele bereit, hier ihre Freizeit zu investieren, wovon die Kompanie nicht übermäßig viel hat bei der hohen Anzahl an Vorstellungen und Premieren sowie Wiederaufnahmen des Repertoires, das sich seit Cranko immer wieder verjüngen muss. Daher gab es auch nur eine Gastchoreografin und diese hatte das Talent, mit einem vollkommen unausgegorenen Konzept, mit den Mitteln von Yoga, beim Publikum in der schwäbischen Hauptstadt lediglich für murmelndes Unverständnis zu sorgen.
Aber höflich sind sie, die Tanzfans, die zweimal mühelos das Schauspielhaus füllen. Sie wissen die große Hingabe der Tänzer zu schätzen! Gleich das Eröffnungsstück von David Moore „Sugar Rush“ lässt professionelle Handschrift erkennen und im Lauf des Abends musste ich des Öfteren daran denken, dass auch sehr viele Musiker in den Orchestern Musik schreiben, die aber, wenn überhaupt, nur im kleinen Kreis aufgeführt werden, will heißen, dass nicht jeder „Junge Choreograf“ über diese Gelegenheitsstückchen hinauskommt. Aber man kann nicht dankbar genug sein, für diese Einrichtung, die im Übrigen in der gesamten Republik mit Erfolg Nachahmer gefunden hat.
Ich glaube, es erübrigt sich, hier alle Stücke aufzuzählen, aber die eindrucksvollsten waren die, die nach der Pause wie Perlen an einer Schnur abliefen. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass man zwischen den einzelnen Nummern das Saallicht anmachte, so dass man Gelegenheit hatte, im Programm kurz zu erfahren, was nun als nächstes kommt und vielleicht auch die Tänzer besser zu identifizieren. Alle Stücke haben englische Titel, sie sind mir nicht in Erinnerung geblieben. Ein Versuch zu Klimts Gemälde „Der Kuss“ („Klimt´s Persuation“) war sehr professionell choreografiert von Aurora de Mori, interpretiert von Jisoo Park und Adhonay Soares da Silva.
Ähnliches lässt sich über „Absence“ sagen, die vielsagend interpretierte Choreografie von Rolando D´Álessio und Ruiqi Yung ´s Beitrag „If Only“. Vor allem im ersten Teil habe ich mich gefragt, weshalb nichts Heiteres an diesem Abend Platz gefunden hat? Und tatsächlich, nach der vorletzten Nummer „I spy my little eye“, ein Trio von Emrecan Tanis, kam der Rausschmeißer „Cello contra Bass“ für kleines Ensemble, ein Sextet von Roman Novitzky, das von Eric Gauthier nicht amüsanter hätte getanzt werden können. Leichte Kunst – sehr schwierig, ich spreche aus Erfahrung!
Die Ballettvorstellung der John Cranko Schule im Opernhaus Stuttgart begann mit einem großen „Ballet Blanc“ von Leonid Lawrowsky, der „Klassischen Symphonie“ von Prokofjew. Es verlangt den jungen Tänzern an technischen Fertigkeiten alles ab und ich war begeistert vom sehr guten Niveau. Bei den jungen Tänzerinnen fiel mir auf, dass keine Hungerhaken dabei sind, was durchaus guttut und die Tanzpartner hatten auch keine Schwierigkeiten bei den Lifts, die glücklicherweise nicht übermäßig akrobatisch ausfielen. Womit ich wieder bei choreografischem Mittelmaß angekommen bin. Dieses Stück ist choreografisch leider mit dem Meisterwerk dieses Genres von Harold Landers „Etudes“ nicht zu vergleichen, hat bei weitem nicht den Effekt, ist aber genauso schwer zu tanzen. Vier Soli oder Duette von Marco Laudani, Goyo Montero, Catarina Moreira und Uwe Scholz folgten, wovon das zuletzt genannte, getanzt von Adhonay Soares da Silva zeitlos interessant bleibt und wenn dieser junge Interpret noch etwas reift, was uns allen ja nicht erspart bleibt, wird er noch sensationeller rüberkommen!
Der Knaller von Marco Goecke vor der Pause verlangt diesen in erster Linie ja klassisch trainierten „Nachwüchslern“ alles an Beweglichkeit ab, auch an Persönlichkeit. Und hier sei Sarah Abendroth für ihre Kompetenz bei der Probenleitung gedankt. Die Komplexität des Choreografen Forsythe hat bei ihr sicherlich eine bedeutende Vorbereitung für die Entwicklung der Nachgeborenen gebraucht. Eine „Italiana“, Choreografie Nicola Bisutti, ist mir kaum in Erinnerung geblieben, außer dem Umstand, dass der männliche Nachwuchs bei weitem inzwischen die Ballerinen überholt hat.
Wo sind die Nachfolgerinnen von Birgit Keil, Susanne Hanke, oder Alicia, deren Nachname nicht zu erwähnen ist, denn sie steht ja jeden zweiten Tag auf der Bühne in Stuttgart. Einen interessanten Abstecher in die Romantik des Balletts machte „Najade und der Fischer“ von Jules Perrot, das ich nicht einmal dem Namen nach kannte; erinnert an Giselle und die dänisch-französischen Ableger des romantischen Balletts. Dann gab‘s noch den Publikums-Hit einer vorpubertären Jungsklasse von Jon Drake und Nach-Nachwuchs: „Spirits of Nature“, kindgerecht choreografiert von Marco Laudani. Und zum Abschluss „Simple Symphonie“: diese Benjamin-Britten-Musik hat nicht nur Alastair Marriot zu einem Ballett gereizt. Wenn mich nicht alles täuscht wurde sie zu Recht zum Repertoire dieser einmaligen Schule, und zwar durch deren Leiter Tadeusz Matacz.
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