Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
Das Hessisches Staatsballett Darmstadt-Wiesbaden zeigt die Uraufführung von Tim Plegges „Kaspar Hauser“
Kaspar Hauser (1812-1833) war ein Außenseiter, ein einsamer und obdachloser junger Mann, der bereits zu Lebzeiten unter den Verdacht des Schwindelns fiel. Heute bestätigt die Forschung, dass niemand so schnell sprechen und gehen lernen kann, der seit der Kindheit völlig isoliert war. Deprivation bleibt ein lebenslanges Problem für den Betreffenden, er kann nicht zum charmanten Mittelpunkt einer Gesellschaft werden. Und doch faszinierte die Lebensgeschichte Autoren und Regisseure über die vergangenen Jahrhunderte hinweg. Der Interpretationen sind viele, nun also ein Handlungsballett zu all den Romanen, Bühnenstücken und Filmen.
Allgemeiner formuliert geht es um Fremdsein in der westlichen Zivilisation: von den einen begafft und verhöhnt, von anderen als interessantes Objekt wissenschaftlich untersucht. Liebe und Fürsorge bringen die wenigsten auf. Die Geschichte von Kaspar Hauser hat das Potential zu aktuellen Bezügen, das hat der Ballettchef des Hessischen Staatstheaters Darmstadt-Wiesbaden, Tim Plegge, gut erkannt. Doch erzählt er das Leben des geheimnisvollen Sonderlings anrührend konkret, fast ohne inszenatorische Brechungen. I-Tüpfelchen dieser Sichtweise ist die Einbindung eines blond gelockten Knaben in die Choreografie, der von der biedermeierlich gewandeten Mutter geherzt und geschaukelt, von einem schwarzen Mann entführt und allein eingesperrt wird. Schwingt hier schon die Assoziation des Missbrauchs mit, so scheint die pädophile Neigung bei dem späteren Förderer Lord Stanhope vollends klar zu sein. Auch das eine Interpretation aus heutiger Sicht. Der ‚getanzte Kriminalfall’, der in der Realität ungeklärt blieb, bietet am Ende drei Variationen des Todes: als Suizid auf der Schaukel, durch den schwarzen Mann mit einem Messer, als Kollektivmord durch die Gesellschaft plus langer Abgang. Die Szene zieht sich entsprechend in die Länge.
Das Bühnenbild (Sebastian Hannak) ist geprägt von einer riesigen zweiteiligen Wand, deren eine Seite einen groß gezogenen, verpixelten Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde „Anatomie des Dr. Tulp“ von Rembrandt zeigt, genauer: die neugierigen Gesichter der Menschen, die den Ausführungen des Wissenschaftlers zur Sektion eines Leichnams lauschen. Türen in der Großwand und die Drehbühne sind wichtige Mittel um die Örtlichkeiten neben den sparsam eingesetzten Requisiten anzuzeigen. Die Kostüme (Judith Adam) zeigen die Berufs- und Klassenzugehörigkeit, sie tragen wesentlich zur Klarheit der Erzählung bei.
Die großen Tanzrollen haben eindeutig die Männer, allen voran Tyler Schneese als Kaspar Hauser, der einfühlsam und mit großem körperlichen Einsatz das Gehen lernen tänzerisch interpretiert, zudem die Einsamkeit und Naivität des Menschen überzeugend darstellt. Taulant Shehu gibt kraftvoll dynamisch den schwarzen Mann, David Cahier den eleganten Adligen. Gruppenszenen zeigen Kaspar Hauser bei den fürsorglichen Pflegeeltern (Igli Mezini, Miyuki Shimizu), auf einem Untersuchungstisch umringt von Weißkitteln mit Zylindern, sowie in bürgerlicher und adlig-dekadenter Gesellschaft. Tänzerisch begleitet wird Hauser von drei inneren Stimmen (Guido Badalamenti, Vítek Kořínek, Tatsuki Takada), die in psychischen Krisensituationen versuchen ihm zu helfen.
Plegge bietet ästhetisch ansprechendes und gut verstehbares Handlungsballett, er verfügt über großartige Tänzer, beherrscht ebenso das Choreografieren von Großgruppen wie den sensiblen Umgang mit Individualszenen. Innovatives sollte man jedoch nicht erwarten, wenn man das Stück besucht. Das Publikum der Uraufführung in Darmstadt applaudierte begeistert.
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