„Turangalîla“ von John Neumeier. Tanz: Christopher Evans

„Turangalîla“ von John Neumeier. Tanz: Christopher Evans

Ein Meisterwerk im Doppelpack

„Turangalîla“ eröffnet die 42. Hamburger Ballett-Tage

Schon seit Jahrzehnten hegte Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier den Wunsch, Olivier Messiaens 1949 beim Boston Symphony Orchestra unter Leonard Bernstein uraufgeführte Sinfonie in zehn Sätzen „Turangalîla“ als Ballett auf die Bühne zu bringen.

Hamburg, 05/07/2016

Schon seit Jahrtzehnten hegte Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier den Wunsch, Olivier Messiaens am 2. Dezember 1949 beim Boston Symphony Orchestra unter Leonard Bernstein uraufgeführte Sinfonie in zehn Sätzen „Turangalîla“ als Ballett auf die Bühne zu bringen. Allein – der Komponist hatte jegliche Choreografie auf sein Werk untersagt, obwohl es mit seinen lang atmenden melodischen Bögen und seiner zwingenden Rhythmik sehr tänzerisch angelegt ist. Nur einmal hatte Messiaen die Erlaubnis dafür gegeben – an Roland Petit; in Paris wurde „Turangalîla“ im Juni 1968 im Bühnenbild von Max Ernst aufgeführt, allerdings nur ein einziges Mal. Es folgte eine endlose juristische Auseinandersetzung, die Messiaen so zermürbte, dass er jede tänzerische Interpretation ein für allemal verbot.

Turangalîla ist ein Mädchenname sowie ein Begriff aus dem Sanskrit: „lîla“ bedeutet wörtlich übersetzt „Spiel“, meint aber „das göttliche Einwirken auf das kosmische Geschehen, also das Spiel der Schöpfung, der Zerstörung, der Wiedererschaffung, das Spiel von Leben und Tod“, wie Messiaen selbst einmal sagte. „Turanga“ steht für „Zeit“, „Bewegung“, „Rhythmus“. „Lîla“ meint aber auch „Liebe“ im umfassendsten Sinn – und so ist diese Komposition ein Hochgesang an die Liebe in all ihren Schattierungen und Ausprägungen. Ein Thema, wie geschaffen für John Neumeier, in dessen Werk die Liebe ohnehin einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Schon 1973 wollte er Auszüge aus „Turangalîla“ in einen dreiteiligen Abend einbauen, als erstes Werk für Hamburg. Aber Messiaen verweigerte das strikt und meinte nur, es handele sich um ein sakrales Werk, das nie vertanzt werden dürfe. Und Neumeier begrub seine Hoffnung unter dem resignativen Satz „Es wird nie etwas mit Olivier Messiaen und mir...“ Erst als Kent Nagano als Generalmusikdirektor nach Hamburg kam und sich mit Neumeier traf, erzählte dieser wieder von seinem alten Traum, „Turangalîla“ als Ballett auf die Bühne zu bringen. Nagano, ein Protégé Messiaens, war begeistert und wollte den Weg dafür ebnen, was dann auch tatsächlich gelang. Dass er den Entstehungsprozess begleiten und selbst am Pult stehen würde, war dem Sohn Messiaens und dem Verleger Durand Garantie genug.

Allerdings erbat der Verlag ein Libretto von John Neumeier, womit dieser jedoch nicht dienen konnte. „Auf ein sinfonisches Ballett kann man keine Geschichte schreiben“, sagt er. Es gelte, in der Musik und aus ihr heraus emotionale Zustände zu entdecken und diesen eine choreografische Form zu geben. Das könne man nicht in Worten artikulieren. Die bereits erteilte Aufführungserlaubnis stand mit dieser plausiblen Erklärung nicht mehr auf dem Spiel.

Und so wurde Messiaens Musik bei der Premiere am vergangenen Sonntagabend zum Auftakt der 42. Hamburger Ballett-Tage erst zum zweiten Mal in Tanz übersetzt – das aber so genial, dass der Komponist sicher begeistert gewesen wäre. Was Nagano und Neumeier hier gemeinsam zustande brachten, ist im schönsten Wortsinne ein Meisterwerk im Doppelpack. Eine Liebesheirat zwischen Musik und Tanz, ein durch und durch überzeugendes Gesamtkunstwerk. Zum einen diese furiose Musik, ebenso zärtlich wie gewaltig, vom Philharmonischen Staatsorchester brillant gespielt, in riesiger Besetzung (58 Streicher, 10 Percussionisten, 5 Trompeten...) mit den Solisten Yejin Gil am Flügel und Valérie Hartmann-Claverie an den Ondes Martenot, einem elektronischen Tasteninstrument, das Sphärenklänge zustandebringen kann. Kent Nagano hat das gesamte Orchester hier zu einer Höchstleistung angespornt, wie man sie so in einer Ballettaufführung selten gehört hat.

Und dann diese fulminante Choreografie, ein Freudenfest der Bewegung ebenso wie der Besinnung. Neumeier stellt einen Prolog in der Stille voran, getanzt von dem großartigen 22-jährigen Solisten Christopher Evans, der mit seiner Jugend, aber auch mit gesammelter Innigkeit das Stück über 90 Minuten hinweg wie eine Art Leitfigur trägt und in all seinen Facetten auskostet. Am Schluss reicht die schlichte Geste der ausgebreiteten Arme, um alles zu umfassen, was Musik und Tanz zu sagen hatten. Auch zwischen die einzelnen Sätze der Musik stellt Neumeier immer wieder Passagen der Stille, der Sammlung, der Konzentration in der Bewegung. So entsteht ein anderthalbstündiger Spannungsbogen, der in einer großen Huldigung an die Liebe mündet, voller Freude, Kraft und Leichtigkeit, aber auch voller Wissen um Schwere, Leiden und Tragik.

Neumeier hat sich in dieser Choreografie über weite Strecken hinweg noch einmal ganz neu erfunden – und wie er hier die Ensembles komponiert, wie er Dynamik und Getragenheit kontrastiert, wie er die für ihn typischen, schwerelos ineinander verschraubten Hebungen mit erdverbundener Schwerkraft verbindet, das macht ihm so schnell keiner nach. Wie schon in den Mahler-Sinfonien, so wird auch an Messiaens sinfonischer Dichtung das ganze Ausmaß seiner vielschichtigen choreografischen Kreativität sichtbar. Sei es in einem großen Pas de Deux auf den zweiten Passus des Werkes („Liebesgesang“), den Hélène Bouchet und Carsten Jung mit größtmöglicher Hingabe und feinster Präzision tanzen, sei es in einem der kraftvoll-dynamischen Pas de Six für Männer (großartig: Kontantin Tselikov, Aleix Martínez, Thomas Stuhrmann, Marcelino Libao, David Rodriguez, Nicolas Gläsmann), oder in den fast poetischen Soli der Frauen, die Florencia Chinellato, Mayo Arii und Xue Lin wunderbar feinfühlig tanzen. Hervorzuheben sind darüber hinaus die glänzend interpretierten Solo-Partien von Edvin Revazov, Alexandr Trusch, Marc Jubete, Marcelino Libao und Yun-Su Park. Das gesamte Ensemble brilliert mit feinster Tanzlaune und meistert alle rhythmischen Klippen, die die Musik in hohem Maße bereithält, mit großer Musikalität.

Heinrich Tröger kreierte für die 99 Musiker, die natürlich nicht in den Operngraben passten, ein wunderbar schlichtes Bühnenbild – mit einem weit nach hinten geöffneten Raum für das Orchester, einer kreisförmigen Bühne davor für die Tänzer, und einer zweiten Ebene im Hintergrund, hoch über Musik und Tanz, auf der sich die Choreographie immer wieder in einzelnen Tänzern spiegelt. Dass die Musik so viel Platz hat, kommt auch dem Gesamteindruck zugute – die Klangfülle kann sich ungehindert ausbreiten und trägt den Tanz in bisher ungekannte Höhen.

Das Tüpfelchen auf dem i sind die Kostüme von Albert Kriemler für Akris, eine asymmetrische Ode an das Spiel der Farben von Weiß über Grau und Nude bis zum Schwarz, kontrastiert von Rottönen in allen Schattierungen: Lachs, Orange, Dunkelviolett, Rost, Tomatenrot, Weinrot. Die weiten langen Röcke verlangen den Tänzerinnen einiges an Souveränität ab – schwingen aber eben wunderbar zu den Bewegungen, ebenso die rockartigen Beinkleider der Männer.

Hamburg ist mit „Turangalîla“ um eine Attraktion reicher – darin war sich das Premierenpublikum einig, wie der große, begeisterte Beifall für Musiker und Tänzer, vor allem aber für Kent Nagano und John Neumeier zeigte.

Weitere Aufführungen leider nur am 5. und 8. Juli, 20., 22. und 29. Oktober 2016 sowie am 8. Juli 2017
 

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