„Eugen Onegin“ von John Cranko. Tanz: Alessandra Ferri, Edvin Revazov.

„Eugen Onegin“ von John Cranko. Tanz: Alessandra Ferri, Edvin Revazov.

Huldigung an die russische Tradition

Eine Nijinsky-Gala mit vielen glanzvollen Höhepunkten beschloss die 43. Hamburger Ballett-Tage

Wie die gesamte Saison 2016/17 beim Hamburg Ballett stand auch die diesjährige Nijinsky-Gala unter dem Motto „Russland“.

Hamburg, 20/07/2017

Die gesamte Saison 2016/17 beim Hamburg Ballett stand unter dem Motto „Russland“. Augenfälligster Ausdruck davon waren Neumeiers drei tänzerische Adaptationen großer russischer Literatur: „Die Möwe“ von Anton Tschechow (2002), „Tatjana“ nach „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin (2014) und natürlich „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi, die gerade erst zum Auftakt der diesjährigen Ballett-Tage uraufgeführt wurde. Alle drei Werke waren sowohl in dieser Spielzeit als auch während der Ballett-Tage zu sehen. Kein Wunder also, dass Ballettintendant John Neumeier die wie immer gut fünfstündige Nijinsky-Gala zum Abschluss der Saison ebenfalls unter die Überschrift „Inspiriert von Russland“ stellte.

Eine schöne Idee war es, den Abend durch die Klassen I bis VIII der Ballettschule mit zwei hauseigenen Choreografien eröffnen zu lassen: „Schneesturm“ zu Musik von Georgi Swiridow, und „Frühling“ zu Tschaikowskys „Schneeflöckchen“ und „Tanz der Gaukler“. Viktoria Zaripova, die als Gastballettpädagogin wirkt, und Konstantin Tselikov, Solist beim Hamburg Ballett, hatten für die Mädchen und Jungen ebenso abwechslungsreiche wie anspruchsvolle Arrangements in der Tradition der russischen Folklore komponiert, die für jede Altersgruppe passende Elemente enthielt und einmal mehr das hohe Niveau der Ballettschule unter der Leitung von Gigi Hyatt unter Beweis stellten.

Bis zur ersten Pause folgte ein Feuerwerk verschiedener Klassiker russischer Tradition. Den Auftakt bildeten zwei Beispiele aus Marius Petipas „Dornröschen“: der „Blaue Vogel“, ebenso leichtfüßig wie sprunggewaltig hingetupft von Xue Lin und Alexandr Trusch, und der Grand Pas de Deux, den Carolina Aguero und Alexandre Riabko lupenrein zelebrierten. Gleich danach der mit vielen technischen Schwierigkeiten gespickte Grand Pas de Deux aus John Neumeiers Version von „Der Nussknacker“. Diesmal jedoch in einer speziellen Gala-Version in drei parallelen Besetzungen mit Solisten und Ersten Solisten aus dem eigenen Haus: Mayo Arii und Karen Azatyan, Leslie Heylmann und Christopher Evans sowie Anna Laudere und Edvin Revazov. Bei den Ballerinen stach hier Mayo Arii mit makelloser Linie, hoher Musikalität und traumhaft sicheren Balancen heraus.

Eine Art Gemeinschaftswerk des Hamburg Ballett mit Solisten aus dem Wiener Staatsballett war der anschließend gezeigte Ausschnitt aus Neumeiers „Pavillon d’Armide“. Er enthält auch den berühmten Pas de Trois von Michel Fokine (hier in der Rekonstruktion von Alexandra Danilowa), mit dem Vaslav Nijinsky am 18. Mai 1909 über Nacht zum Superstar der Ballettgeschichte avancierte. In Neumeiers Fassung erinnert sich Nijinsky im Schweizer Sanatorium an diese wichtigen Stationen seines Tänzerlebens, und ebenso an die Liebe zu Serge Diaghilew. Mihail Sosnovschi (Wiener Staatsballett) war ein ausdrucksstarker Nijinsky, Maria Yakovleva, Nina Tonoli und Denys Cherevychko (alle Wiener Staatsballett) tanzten stilsicher den historischen Pas de Trois. Carolina Aguero verlieh Armide wunderbar ätherisch zarte Züge, und Ivan Urban als Serge Diaghilew begeisterte durch seine tänzerische Sicherheit und zwingende Ausdruckskraft.

Den Abschluss von Teil 1 bildete der Grand Pas de Deux aus dem 3. Akt von „Don Quixote“ in der Fassung von Rudolf Nurejew. Es war gleichzeitig eine Art Preview, denn das ganze Werk steht als erste Premiere Anfang Dezember auf dem Spielplan. Nurejews Version habe ihn nicht nur mit ihrer Opulenz, sondern auch durch ihre „überzeugende Dramaturgie“ überzeugt, wie Neumeier in seiner Moderation anmerkte. Die frischgebackene Solistin Madoka Sugai als Kitri zündete hier ein Feuerwerk ihrer makellosen Technik, gepaart mit Witz und Keckheit; Karen Azatyan war ein ebenso sicherer wie souveräner Basil. Derart spritzig und lustvoll getanzt wirkt selbst so ein Klassiker wie frisch geputzt. Bravo!

Teil 2 war Igor Strawinsky gewidmet, dem wohl bedeutendsten Ballettkomponisten des 20. Jahrhunderts, mit dem die Moderne begann. Das erste Stück war eine Eigenkreation der acht Tänzerinnen und Tänzer des Bundesjugendballetts: „Dumbarton Oaks“ zur gleichnamigen Musik von Strawinsky ist ebenso fantasievoll wie abwechslungsreich und enthält noch dazu eine kräftige Portion Humor. Eine große Leistung der jungen Tänzerinnen und Tänzer.

Wie zeitlos die Choreografien von Michel Fokine sind, bewies ein 1911 geschaffenes Solo aus „Petruschka“. Es war eine weitere Paraderolle Nijinskys, die Neumeier auch in seinem gleichnamigen Stück über diesen bedeutenden Tänzer und Choreografen verarbeitete. Hier wurde es aber nicht in Kostüm und Maske getanzt, sondern im schlichten grauen Anzug in einem Lichtquadrat auf ansonsten dunkler Bühne. Lloyd Riggins brachte die Sehnsucht, Not und Verzweiflung Petruschkas in beklemmender Intensität auf die Bühne. Unglaublich, dass dieses Werk wirklich schon 106 Jahre alt ist.

„Fusing“ hieß ein von Zhang Zhenxin vom National Ballet of China eigens für diese Gala choreografiertes Stück auf den „Höllentanz“ aus Strawinskys „Feuervogel“. Vor einem blauen Hintergrund schälen sich aus einer schattenrissartigen Silhouette drei Tänzer in den drei Farben Russlands – Rot, Weiß und Blau – heraus. Und es beginnt ein wahrhaft furioser Höllentanz, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, die Zhang Zhenxin selbst sowie Zhang Jian und der schon beim Gastspiel des National Ballet of China in einem Solo überzeugende Wu Siming glanzvoll meistern.

Natürlich darf in dieser Strawinsky-Hommage dessen wohl bedeutendstes Werk für die Ballettwelt nicht fehlen: „Le Sacre du Printemps“, hier in einem Ausschnitt aus der Neumeier-Version, wobei Aleix Martinez und Emilie Mazon im Pas de Deux ihr Bestes geben und sich Patricia Friza als Opfer völlig verausgabt. Aber man merkt hier dann doch, dass man so ein schwieriges und kraftraubendes Stück, das große Exaktheit verlangt, nach einer langen Saison und zwei aufreibenden Ballett-Wochen nicht einfach aus dem Boden stampfen kann.

Teil 3 der Gala stand unter der Überschrift „Die Tradition geht weiter“ und begann mit dem Ball-Pas de Deux aus „A Cinderella Story“, in dem der Prinz Cinderella seine Liebe erklärt – heiter getanzt von Florencia Chinellato und Christopher Evans.

Natürlich durfte ein Ausschnitt aus Neumeiers jüngster Kreation „Anna Karenina“ nicht fehlen, hier die Szene zwischen Anna und Graf Wronski, die sich auf Kittys Verlobung mit Wronski begegnen und einander verfallen. Anna Laudere in der Titelrolle und Edvin Revazov als Wronski tanzen diesen Pas de Deux zwar höchst elegant, aber warum daraus tatsächlich mehr erwächst als ein manieriert-gezierter Flirt, erschließt sich nicht wirklich.

Es folgte ein Ausschnitt aus „La Sylphide“ von August Bournonville mit Solisten des Bolshoi-Balletts. Anastasia Stashkevich und Artem Ovcharenko tanzten makellos.

Ksenia Ryzhkova und Erik Murzagaliyev vom Bayerischen Staatsballett zeigten anschließend den Liebes-Pas de Deux der beiden befreiten Sklaven Phrygia und Spartacus aus dem gleichnamigen Stück von Yuri Grigorovich, zu dessen 90. Geburtstag im Januar dieses Jahres das Stück in München wiederbelebt wurde. Als Grigorovich „Spartacus“ im Jahr 1968 choreografierte, war das eine kleine Sensation – verband es doch die klassische Tradition des Balletts und vor allem des Bolshoi mit der sozialistischen Sowjetunion. Heute sieht man dergleichen eher mit gemischten Gefühlen.

Aber was für ein Kontrast gleich im Anschluss daran: Der Schluss-Pas de Deux aus John Crankos „Eugen Onegin“, getanzt von der einzigartigen Alessandra Ferri als Tatjana. Wenn eine an die bislang schwer zu übertreffende dramatische Interpretation von Marcia Haydée heranreicht, dann sie – noch dazu mit einer absolut makellosen Technik. Sie macht vor, wie man so etwas tanzen muss – aus tiefstem Inneren empfunden. Gerade die Werke von Cranko und eben auch die großen Literaturadaptationen Neumeiers erfordern diese absolute Hingabe. Edvin Revazov als Onegin war der Ferri hier leider in keiner Weise gewachsen und blieb eher blass.

Neumeiers „Klein Russland“ zum Finale der 2. Sinfonie von Peter Tschaikowsky bildete den Abschluss – und gab dem Hamburger Ensemble mit Leslie Heylmann (für die leider erkrankte Silvia Azzoni) und Alexandre Riabko an der Spitze die Gelegenheit, noch einmal ganz in tänzerischer Spielfreude aufzugehen, um sich dann in die Sommerpause zu verabschieden.

Simon Hewett führte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg an diesem Abend durch alle Höhen und Tiefen der vielfältigen musikalischen Anforderungen. Und last but not least muss hier die Glanzleistung der Bühnenarbeiter und -techniker erwähnt werden, die es schafften, die Szenen aus „Nussknacker“, „Pavillon d’Armide“, „Anna Karenina“, „La Sylphide“ und „Eugen Onegin“ in fliegendem Wechsel in den Original-Bühnenbildern zu zeigen. Chapeau!

Standing Ovations und der obligatorische Konfettiregen zu riesengroßen Hortensien-Sträußen waren ein würdiger Dank für diese opulente Gala.

 

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