Zwischen Gleiten und Vollgas
„Ausland“ von Jefta van Dinther und „Skatepark“ von Mette Ingvartsen beim Tanz im August
Tanz im August: Yoann Bourgeois' „Celui qui tombe“ im Haus der Berliner Festspiele
Yoann Bourgeois bezeichnet sich auch als Akrobat, Schauspieler, Gaukler, Tänzer – in erster Linie versteht er sich als Spieler. Gemeinsam mit dem Choreografen und Performer Rachid Ouramdane leitet er seit 2016 das Centre Choréographique National de Grenoble (CCNG); sie und ihre Mitstreiter verstehen sich als multidisziplinäre Kreative. Bereits 2012 eröffneten Yoann Bourgeois und seine Kompanie das Internationale Zentrum für Zirkusforschung und ein Zirkusakademie-Programm zur Recherche der Ursprünge akrobatischer Bewegung jenseits rein spektakulärer Bedürfnisse. „Celui qui tombe“ (übersetzt: „Wer fällt“) erlebte seine Uraufführung 2014 auf der „Biennale de la danse“ der Oper Lyon. Yoann Bourgeois zeichnet für Konzept, Regie und Szenografie verantwortlich.
Die große Bühne im Haus der Berliner Festspiele ist in Schwarz gehüllt, abrupt sackt eine Scheibe mit einem auf ihr liegenden Menschenpulk in den Raum. Tastend erheben sich drei Frauen und drei Männer. Langsam, einem Beethoven Marsch folgend, gehen sie auf der Schräge bergan. Als die Platte in die Horizontale fällt, erstarrt ihre Bewegung. Unsicheres Terrain. Ganz allmählich beginnt sich die Plattform zu drehen, wird ihre Rotation schneller und schneller. Die Sechs müssen den enormen Fliehkräften Paroli bieten. Im Pulk schräg im Wind stehend voller Genuss oder Angst. Der Einzelne wird an den Rand geschleudert; nur im Zentrum findet sich Halt. Eine Menschenskulptur im permanenten Wandel. Individuen rennen vereinzelt, erblicken einander voller Freude über die Diagonalen auf der Kreisbahn, lachend fallen sich Männer und Frauen in die Arme, drei Paare schwebend im Glückstaumel. Sinatras „I did it my way“ grundiert das positive Energiefeld. Doch rückwärts verzerrt abgespult, gilt es dem kontrastierenden Wettlauf jeder gegen jeden. Ein Mädchen hetzt bis zum eigenen Zusammenbruch über die am Boden Liegenden. Stillstand. In wechselnden Formationen stemmen sich die Akteure gegen die Platte. Ihr ganzkörperlicher Einsatz bringt sie zum Schwingen und alle müssen auf schwankendem Grund die Balance austarieren. Minutiös kann der Betrachter verfolgen, wie der Schritt des einen die Schritte der anderen tangiert, ja bedingt, um das Gleichgewicht für die Gruppe zu erhalten. Die Steilwand fordert Abstürze. Ein Mann rettet sich auf den Gipfel. Ungerührt steht er hoch oben allein, die anderen werden von der Platte fast erdrückt.
Bourgeois 'choreografiert' präzise ein permanentes Umschlagen konstruktiver und destruktiver Bewegungsenergien und ihrer assoziativen Bedeutung. Voller Emotionalität, verstörend, leise, intensiv und mit inhaltlicher Tiefe erschaffen Yoann Bourgeois und seine fabelhaften Protagonisten lesbare Bilder zum krisengeschüttelten Verhältnis von Individuum – Kollektiv – Welt.
Die quadratische Plattform im Bühnenraum wird zum herausfordernden Gegenspieler für sechs PerformerInnen. Jeder Einzelne und die Gruppe müssen auf ihr – der Erde – Platz und Halt finden. Ausgang ungewiss. Sie hängen unten an der Platte und singen a capella um Erbarmen vor dem Absturz. Sie stemmen sich mit ganzem Körpereinsatz, trotzen Rückschlägen und körperlichen Blessuren, entfachen die schwere Pendelbewegung der Platte und besiedeln sie neu. Eine schafft es nicht. Groß ausgespielt wird der Tod der Frau, die wie ein Flüchtling strandet. Sie tragen den leblosen Körper zusammen und einzeln, suchen vergeblich ihn auf die Platte zurück zu hieven. Niemand wird es zurück schaffen. Mit puren Händen klammern sie sich an den frei im Raum schwebenden Boden. Der Erste fällt in die dunkle Tiefe. Menschliches Fallobst, die Erde spuckt sie nacheinander aus.
Yoann Bourgeois und seinen Protagonisten der CCNG gelingt mit „Celui qui tombe“ ein intensiver, vielschichtiger und philosophischer Bewegungsexkurs über die Instabilität des Seins. Das präzise energiegeladene Spiel feiert das Risiko nie als Selbstzweck. Einzigartige akrobatisch-zirzensische Bewegungsbilder entfachen die große Skala der Kräfte, die auf den Menschen einwirken und seine Stellung in der Welt als stark, liebevoll, kontaktfreudig, egoistisch, fragil und gefährdet im theatralen Vorgang von nachhaltiger Wucht erlebbar machen.
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