Großes Potential
Die „Werkstatt der Kreativität“ der Ballettschule des Hamburg Ballett
Schon zum neunten Mal war die Ballettschule des Hamburg Ballett eine Woche lang zu Gast im Ernst Deutsch Theater, dessen Intendantin Isabella Vértes-Schütter freundlicherweise Bühne und Technik ihres Hauses für insgesamt sechs Aufführungen in zwei verschiedenen Programmen zur Verfügung gestellt hatte. Die Schülerinnen und Schüler der Theaterklassen VII und VIII präsentierten 24 choreografische Arbeiten, verteilt auf zwei Programme, die an jeweils drei Abenden en suite gezeigt wurden. 20 Arbeiten stammten von den Absolvent*innen der Klasse VIII, die damit gleichzeitig ihre Abschlussarbeiten im Fach „Komposition“ zeigten, die Bestandteil ihrer Prüfung als Bühnentänzer*innen waren. Sie standen verantwortlich für die Auswahl der Tänzer*innen (aus den Klassen VII und VIII) sowie für Choreografie, Kostüme, Licht und Bühne. Die Schüler*innen der Theaterklasse VII konnten sich mit eigenen Stücken beteiligen, wurden darin aber noch nicht geprüft. Die Programmzusammenstellung hatte John Neumeier selbst in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Leiterin und stellvertretenden Direktorin Gigi Hyatt übernommen, die organisatorische Leitung lag in den bewährten Händen von Indrani Delmaine.
Beide Abende boten ein abwechslungsreiches Programm, das einmal mehr die vielfältigen Begabungen der Schüler*innen zeigte, und ebenso, auf welch hohem Niveau die Schule arbeitet. Dass alle sechs Vorstellungen gut verkauft waren, zeigt, wie groß das Interesse in Hamburg für den Tänzer*innen-Nachwuchs ist – und es ist schon etwas Besonderes, wenn eine Sprechbühne sich so großzügig eine Woche lang ganz dem Tanz widmet.
Jede/r Schüler*in hatte ihrer/seiner Arbeit ein Motto gegeben – mal mehr, mal weniger verrätselt, und auch die Themen waren breit gefächert. Von der Prägung als Junge oder Mädchen in „Pink or Blue“ von Edoarda La Vecchia, über das Pulsieren des Wassers („O Pulsar da Água“ von Murilo Nunes zu Musik von Naná Vasconcelos) bis zu Gedanken über das, was zeitgemäß ist („Our Time“ von Moonjeong Kang zu Janis Joplins „Me and Bobby McGee“ und Ludovico Einaudis „Cadenza“) und das harsche Miteinander in „Rough“ von Antonio Bibbò, ein abstraktes Pas de six von Pepijn Gelderman in „R.E.M.“, das eher klassische „The Storm and the Sun“ von Adrian Cruz mit einem herausragenden Solo von Alessandro Frola bis hin zur Aufforderung „Finde dein Ich und sei endlich du selbst“ in der Arbeit „Was hast Du gefunden?“ von Alice Mazzasette und dem melancholischen „In the Room“ für eine Frau und zwei Männer von Hideki Yasumura.
Hervorzuheben aus dem ersten Programm sind vor allem die Arbeiten von Benjamin Davis, der mit „Bastau Barocco“ eine stark durchkomponierte Choreografie für vier Paare erarbeitet hatte, ebenso „Pulse“ von Charlotte Kragh für drei Frauen und zwei Männer zu Lou Reeds „Walk on the wild side“, oder auch „Next to Me“, ein romantisch-schlichter Pas de deux von Airi Suzuki. Etwas sehr Besonderes war „Rajadas“ von Diogo Rodrigues, der zum Prélude in cis-Moll von Sergej Rachmaninow eine bewegende Geschichte erzählt, der er das Motto gab: „Und der Wind nahm alles mit sich, aber hinterließ den Samen der Hoffnung.“
Das zweite Programm startete mit „Ocassus“ von Roberto Pérez für drei Paare, gefolgt von „Never Been Kissed“, einer humorvollen Geschichte über das Erwachsenwerden für zwei Frauen und drei Männer, und dem eher düsteren „Im(per)fect“ von Quentin Heinze, in dem es um den Anspruch, aber auch die Unmöglichkeit geht, immer perfekt zu sein. Phoebe Taylor hat mit „Imperfect Image“ ein Stück für eine sehende Frau und einen ‚blinden’ Mann choreografiert, in dem sie auslotet, was passiert, wenn jemand ohne Sehsinn ein Bild malt. Um Gefühle, die man versteht oder auch nicht, ging es in „Call It Emotions“ von Sofia Tortorella für vier Frauen und drei Männer.
Unmittelbar vor der Pause dann das Highlight dieses Abends: das schwungvolle „Thinking Out Loud“ von Viktoria Bodahl-Johansen für fünf Frauen und zwei Männer in pfiffigen Kostümen, das mit viel Humor und Witz die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit betont. Gelungen auch „One Full Mind“ von Josephine Grimm, das nach einem eindrucksvollen Solo für eine Frau in einem weitgehend synchron choreografierten Pas de six die Kraft der Gemeinschaft beschwört. Oder auch „The Mind’s I“, eine nachdenkliche Arbeit von Louis Haslach für drei Frauen und zwei Männer über das, was den Menschen ausmacht. „Forever Lost in A Second“ von Chiara Ruaro beschäftigt sich mit der Frage, wie lange Beziehungen tragen, und enthält einen sehr schönen Pas de deux für zwei Männer. Noch einmal um zwischenmenschliche Beziehungen geht es in „Greatest Change“ von Thomas Krähenbühl mit kreativen Ensembles im zweiten Teil des Stücks zu Musik von Max Richter. Und mit dem sehr schön durchgearbeiteten „The Beginning“ von Madeleine Skippen für vier Paare (ganz in schwarzen Trikots) wurde das Ende zum Anfang gemacht, denn zumindest die Theaterklasse VIII startet jetzt das professionelle Tänzer*innenleben. Viel Erfolg!
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