Leben und Sterben einer Legende
„Nurejew“ von Guido Markowitz und Damian Gmür am Stadttheater Pforzheim
Uraufführung des Pforzheimer Ballettensembles an einem ungewöhnlichen Ort
Von Susanne Roth
Mit staksigen Schritten durchquert Sophie Hauenherm wie von einem unsichtbaren Seil gezogen den Saal im Reuchlinhaus. Die Muskeln an den in Schienen steckenden Beinen zittern. Sie spielt nicht, das Zittern ist auch keinem Lampenfieber angesichts der Uraufführung im Pforzheimer Schmuckmuseum geschuldet. Es sind Spasmen, mit denen ihre gelähmten Beine auf die Beanspruchung reagieren. Zweifelsohne ist die querschnittgelähmte Gasttänzerin in der vom Ministerium geförderten Produktion nicht nur wegen ihrer Willenskraft und tänzerischen Ausdrucksstärke im wahrsten Wortsinn ein Hingucker; sie steht in den Szenen des Ballettabends „Perfekt unperfekt“ auch deshalb im Zentrum, weil sie in den Tanzszenen vom Pforzheimer Ensemble getragen, gestützt, geleitet und mit diesem in fließenden Bewegungen zu einer Einheit wird.
Sophie Hauenherm, die eine Bühnentanz-Ausbildung an der Dresdner Palucca Hochschule absolvierte, ist seit einem durch Bakterien ausgelösten Abszess, der die Nerven ihrer Beine abquetschte, querschnittgelähmt. Nach zehn Monaten Krankenhausaufenthalt und Rehabilitation sagt sie aber: „Tanz ist der Ausdruck des Körpers. Man braucht nicht immer die Beine dazu.“ Wie wahr. Sophie Hauenherm ist sozusagen tanzendes Beispiel der Inklusion. „Die Tänzer arbeiten mit den Bewegungen, die für Sophie möglich sind“, erklärt Ballettchef Guido Markowitz.
Aber es würde natürlich viel zu kurz greifen, wollte man den Ballettabend, an dem eine Symbiose aus Tanz, Schmuck(museum) und (Manfred-Lehmbruck-)Architektur eingegangen wird, allein auf den Ausstieg der ehrgeizigen Tänzerin aus dem Rollstuhl begrenzen, wenn das Thema „Unperfekt“, wenn man eine Behinderung denn so nennen wollte, auch der rote Faden ist: „Perfekte“ (will heißen: gesunde) Tänzer*innen greifen rollentauschend zu den Krücken, die im wilden Tanz im Untergeschoss zu schwirrenden Schlegeln werden. Echte Arme sind von künstlichen kaum noch zu unterscheiden; die Arme von Schaufensterpuppen werden zu grazilen Tanzgliedern. Es ist mehr. Wesentlich mehr. Nicht nur, dass das begeisterungsfähige Ensemble von Ballettchef Guido Markowitz und Stellvertreter Damian Gmür sich einmal mehr aus dem Theaterhaus begibt, an einen so kaum bespielten Ort. Die Produktion zeugt von einer gehörigen Portion Mut.
Mittendrin ist das Publikum, das selbst zum Ensemblemitglied wird. Dafür muss es gar nicht tanzen, aber sich mit dem Ensemble mitbewegen: quasi sich in den Schlepptau desselben begebend – von dem Geräusch verfremdeter, an- und abschwellender Wellen (mit)getragen – und sich auf einmal selbst in seiner ganzen Perfektion oder Unperfektion spiegelnd in Flächen, die die durch die Menge gehenden Tänzer*innen zu Beginn des Abends tragen. Manch einer bügelt widerborstige Haare glatt, andere schauen verschämt zur Seite. Weitere Tänzer*innen tragen Fotografien von Oberkörpern vor dem eigenen. Ein Sixpack könnte man sich unter dem Shirt eher vorstellen als der sichtlich gealterte Frauenoberkörper mit hängenden, schlauchartigen Brüsten.
Wie ferne Granateneinschläge aus einem Schützengraben klingt es dann im Saal. Die Tänzer*innen liegen wie leblos in stabiler Seitenlage. Nicht lange: Die Körper der Tänzer*innen winden und strecken sich, zucken scheinbar unkontrolliert, zappeln, dehnen, beugen sich dann auch in einem anderen Raum zwischen dem unvergänglichen Glanz der bewegungslosen Schmuckstücke in den Vitrinen. Die Arme werden zu Uhrpendeln, der Kopf zur „Unruh“ im Uhrwerk. Sie scheinen die berühmten Wände des Reuchlinhauses zu schieben, dann wieder klumpen sie sich wie Hornissen zu einem Nest an der Innenfassade, werden (für kurze Zeit) zu bewegungslosen Steinen an der Kieselwand. Sie streifen die Zuschauer mit ihre Körperformen ins Lächerliche aufblähenden Kostümen, mit haarigen Strumpfhosenbeinen, tanzen als knallbunte Schmuckstücke im Eingangsbereich, umschmeicheln und starren in die Vitrinen der ständigen Sammlung.
Die stärkste Szene kommt zum Schluss wieder im Saal des Schmuckmuseums: Sophie Hauenherm reißt mit wütenden Bewegungen zum Gesang „in heaven everything is fine“ die Klettverschlüsse ihrer Beinkorsagen ab und geht. Allein. Quer durch den Saal. In einer Umarmung versinkend.
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