Dopamin für St. Gallen
Uraufführung von Alan Lucien Øyens „Will night never come?“ und Premiere von „Minus 16“ von Ohad Naharin in der Ostschweiz
Zum Finale holte der 30. „Tanz im August“ mit einer namhaften Kompanie aus: dem Tanztheater Wuppertal, das den Namen seiner Gründerin Pina Bausch im Titel trägt. Ein lastendes Erbe, vor dem Gastchoreograf Alan Lucien Øyen stand. Geladen hatte den Norweger noch Adolphe Binder, erfolgreich als Leiterin beim Berlin Ballett, dann beim Ballett in Göteborg, das sie auf die europäische Tanzlandkarte zurückholte. Nach kurzer Intendanz in Wuppertal wurde sie fristlos gekündigt und lässt nun per Klageverfahren die juristische Rechtlichkeit prüfen. „Neues Stück II“ nennt sich emotionslos Øyens Monumentalgemälde in Pastelltönen und legt damit keinerlei Fährte für den Zugang. Den liefert allein das Stück, und das ist mit geschlagenen 210 Minuten Dauer erst einmal: entschieden zu lang. Schon vor dem offiziellen Beginn agieren die Tänzer in Alex Eales' perfekt drehwandelbarer Zimmerarchitektur, ob Reminiszenz an die Lichtburg, den Probenort der Truppe, ein Filmstudio oder den Komplex privater Räume.
Der Abend fängt mit einer Art Verhör an. Eine Frau kehrt über Paris von Istanbul zurück nach Wuppertal und erfährt, dass ihr besuchter Bruder verstorben ist. Traum oder Realität? Meist finden, angelehnt an Bauschs Bauprinzip, mehrere Aktionen zu gleicher Zeit statt. Eine andere Frau übernimmt weinend in Bodenlage, eine nächste bittet den Verhörenden, der Bestatter ist, um das Begräbnis ihres erhängten Vaters. Doch alle Plätze sind bereits seit Jahren ausgebucht, nur Grabteilung bleibt. Haben Sie ihn geliebt, fragt der Bestatter? Mehrmals geistert Nazareth Panadero schrill lachend durch die Trauerszene. Dann ein Filmset in Wiederholung. Über Sprechfunk werden stücklang Fragen gestellt, Infos eingeholt, Geschichten erzählt. Eine nacherzählbare Geschichte hat „Neues Stück II“ indes nicht, es kreist immer wieder um bestimmte Themen, erinnert bisweilen an die Machart der Ensemblegründerin, geht jedoch eigene Wege. Die Betonung im Genrebegriff Tanztheater liegt mehr auf dem Teil Theater, obwohl es exzellente Soli gibt, in denen die Wuppertaler spielergänzend ihre Qualität ausstellen dürfen.
Verwebt und verschachtelt sind all die Episoden zum Reigen um existenzielle Fragen wie das Verhältnis von Leben und Tod in seiner Unbegreiflichkeit, um Schmerz und dennoch Liebessuche in einer erfahrenen oder erträumten Welt, um abwechselnd tote Väter, Mütter, Brüder. Und nicht zuletzt um Gehenwollen und trotzdem Bleiben nicht nur jener Frauenfigur, die in gewisser Weise den mattroten Stückfaden bildet. Freilich bricht Øyen die Kurzsituationen ständig ins Skurrile, Makabre auf, lässt den Zuschauer lachen, erinnert an Fellini. Hast du Angst zu sterben, fragt Panadero den Kellner. Angst zu leben, antwortet der, ich muss arbeiten. Doch wenn du dann aufhörst, bist du tot. Sanfteste Musik sprudelt aus gut 25 Quellen von John Adams bis Tom Waits, auch Nat King Cole schmeichelt dem Ohr. Am Ende bleibt im Lichtschein ein leerer Stuhl, auf dem immer lebend jemand gesessen hat. Leis klingt ein Abend aus, der wie ein Filmtraum vorüberzieht, sich kaum um dynamische Steigerung schert und den 26 Wuppertaler Tänzern um Nazareth Panadero in ihrer wunderbar geerdeten Persönlichkeit gut zu Gesicht und Körper steht. Kontroversen einbeschlossen.
Mit unserer Welt setzen sich der Belgier Michiel Vandevelde und die 13 Jugendlichen der Gruppe fABULEUS in „Paradise Now“ fulminant auseinander. Aus nachgestellten Bildikonen der Jahre 1968 bis 2018, von den hoffnungsvollen Studentenrevolten über Politmorde bis zum Partyrausch der Gegenwart, verliert sich die Gruppe in besinnungslosem Taumel, ehe Erkenntnisse reifen: Vom resignativen „Demokratie ist vorbei, politische Hoffnung für immer tot“ bis „Uns bleiben in der Verzweiflung über die unkontrollierbare Welt-Maschine Freundschaft und Mut“ reichen die Kommentare ungemein intensiv agierender Jugendlicher – auf denen dennoch viel Hoffnung ruht.
Ganz aufs Private zielt das spanische Duo Pal Melo mit „The Fifth Winter“: Ein nicht mehr junges Paar, umgeben von Schnee, ist einander ausgeliefert, durchlebt Zärtlichkeit, Ablehnung, Nähe, Verweigerung, Berührung, Distanz – eine Weichzeichnung ziellos Einsamer im weißen Raum, anrührend, altersweise und lebenszerzaust. Eingespielte Lyrik sagt, was die Zwei nicht sagen wollen. Partnerschaft rein physisch erkunden hingegen in „M.A.R.S“ von Felix Mathias Ott & Bahar Temiz durch ihr Einswerden über dichteste Leiberverknotungen, mit denen sie den Raum durchrollen. Es sind trotzdem die großen Kompanien, die dem Jubiläumsfestival dank finanzieller Zuschüsse ihren Stempel aufgedrückt haben. Was 2019 folgt, bleibt offen.
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