„Eine große Ehre“
Tarek Assam zum Sprecher der Bundesdeutschen Ballett- und Tanztheaterdirektoren Konferenz gewählt
Mit Daniel Goldins „Wegerzählungen / Cuentos del Camino“ holt der Gießener Ballettdirektor Tarek Assam nach Henrietta Horns „Auftaucher“ vor einem Jahr den zweiten Tanzklassiker der Moderne an das Gießener Theater. Die Tetralogie „Wegerzählungen“ hatte 1994 Premiere in Münster, aufgeführt von Mitgliedern des Essener Folkwang-Tanzstudios. Die einzelnen Duette sind zu verschiedenen Zeiten entstanden (1986-1992) und wurden anfangs auch als Einzelchoreografien aufgeführt. Erst für die Aufführung 1994 wurden sie aneinandergefügt und ergaben im Nachhinein eine sinnvolle Reihung, wie der langjährige Mitarbeiter Matthias Dietrich, zuständig für Bühne und Kostüm, im Vorgespräch sagte.
Schon damals müssen die Duette wie aus einer anderen, einer vergangenen Welt gewirkt haben, allein wegen der altmodischen Gewänder. Darin enthalten sind biografische Elemente von Goldin selbst, der in Argentinien geboren wurde, als Nachfahre von ukrainischen Auswanderern um 1900. Durch seine Tanzausbildung bei Renate Schottelius, einer Schülerin Mary Wigmans, die während des Nationalsozialismus ins Exil ging, erlernte er den deutschen Ausdruckstanz. In Reinform, möchte man sagen. Oder wie Jochen Schmidt schrieb: „Wenn der Ausdruckstanz der 1920er Jahre der deutsche Tanz schlechthin gewesen ist, dann ist der Argentinier Goldin der deutscheste aller Tanztheaterchoreografen.“
Goldin ging zurück ins Ursprungsland des Ausdruckstanzes und suchte nach dessen Spuren, die er im Folkwang-Tanzstudio unter Pina Bausch fand. Münster in Westfalen wurde ihm ab 1996 für 16 Jahre Heimat; er konnte am dortigen Theater mit einem festen Ensemble beständig und erfolgreich arbeiten. Danach hat er wieder in San Martín/Argentinien gearbeitet, choreografisch und in der Lehre. In Europa wollte er etwas anderes als das deutsche Theatersystem kennenlernen und ging nach Frankreich, wo er mittlerweile Professeur de Danse ist. Das ständige Unterwegssein ist auch sein Lebensthema.
Nach mehr als sechs Jahren hat er nun wieder sein preisgekröntes und weltweit aufgeführtes Stück „Wegerzählungen / Cuentos del Camino“ einstudiert. Mit jungen Tänzern und Tänzerinnen, die nicht in der Folkwang-Tradition stehen, denen die Traditionen des deutschen Bühnentanzes weitgehend unbekannt sind. „Sie lernen unglaublich schnell, können die Bewegungsabläufe ebenso schnell rekapitulieren“, erzählt er. Etwas länger dauert es, die Bewegungsanalyse bis in die letzte Feinheit zu erspüren. Es geht um Ausdruck und Emotion, um kleine, differenzierte und dennoch exakte Bewegungen, die zugleich ernsthaft und spielerisch rüberkommen sollen. Anders ist in der Gießener Version auch, dass es tatsächlich vier Paare gibt, noch dazu in Doppelbesetzung, und nicht zwei Paare für je zwei Duette.
Die Musik ist magisch, zusammengestellt aus der Volksmusik Galiziens und Irlands, gemischt mit Naturrauschen und Straßensounds. Die Ursprünglichkeit der galizischen Landschaft (Nordspanien) und das einfache Leben der Menschen dort inspirierten Goldin 1986 zu seinem ersten Duett, das in der Tetralogie das zweite Stück ist: „La Peregrinación (Wallfahrt)“. Als nächstes entstand 1992 „La Sombra y la Luna (Schatten und Mond)“, das in der Gesamtabfolge als drittes getanzt wird, und 1993 folgte „A la Deriva (Treibgut)“, das an den Anfang gesetzt ist. Mit dem Zusammenbringen dieser drei Duette schuf Goldin 1994 das vierte und abschließende Duett, das inhaltlich die Hoffnung in den ansonsten von Schwermut geprägten Reigen bringt: „Alborada (Morgendämmerung)“.
Das erste Paar, „Treibgut“, wird von Laura Ávila und Yusuke Inoue elegisch zelebriert, beinahe stehend an einem Punkt, hin und her schwankend wie Halme im Wind. Die „Wallfahrt“ erfolgt diagonal durch den Raum, das Paar ist in Straßenkleidung mit Hut und Kopftuch gewandet. Die Szene führt zur körperlichen Nähe mit Andeutung von Gewalt; getanzt von einer ausdrucksstarken Maria Adriana Dornio und Sven Krautwurst.
„Schatten und Mond“ wird zur fast somnambulen Trance, in der Julie de Meulemeester und Patrick Cabrera Touman mit der Ausdruckssprache des Körpers psychische Extreme vor Augen führen. Die „Morgendämmerung“ steht für Hoffnung, das Paar wendet den Zuschauern den Rücken zu als stünde es an der Reling eines Ozeandampfers, der in einen Hafen des Goldenen Amerikas einfährt. Sie schauen, suchen, orientieren sich, gehen gebückt über lange Wegstrecken, bis sie dem Hoffnungsschimmer entgegen tanzen; leichtfüßig umgesetzt von Caitlin-Rae Crook und Gleidson Vigne.
Daniel Goldin war bereits 2013 in Gießen zu Gast, als Gastchoreograf für das Site-Specific-Project „Von den Winden“ während der TanzArt ostwest. Das Stück verzauberte die damaligen Besucher, von denen einige mehrfach hingingen. Das dürfte diesem Tanzabend auf der taT-Studiobühne auch passieren. Ein Stück, wie aus der Zeit gefallen. Wer Ruhe sucht, wird sie dort finden. Das Premierenpublikum war hingerissen.
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