Wie Dominosteine
Premiere „Changes“ mit Uraufführungen von Damian Gmür und Odbayar Batsuuri
Man kann es sich aussuchen, ob man am sicheren Ufer bleiben, sich in seichtes Wasser wagen oder in die Tiefsee vorstoßen will. Fast spürt das Publikum, wie das Wasser des Pazifischen Ozeans vor der Nordostküste Australiens an den Füßen leckt. Wie die Touristenströme (etwa eine Million Besucher pro Jahr) am Great Barrier Reef werden die Besucher bei „TANZ PUR 4“ im Gasometer Pforzheim in Bahnen gelenkt. Zunächst.
Im Lauf des Abends wird das Publikum von der (Angel-)Leine gelassen, darf sich treiben lassen und wählt so die Perspektive auf den Tanzabend selbst. Kein Rollenwechsel, aber ein Rollenspiel mit einem „beweglichen“ Zuschauer. Was das „Über-die-Ufer-Treten“ eines Ballettensembles wie das des Stadttheaters Pforzheim unter Leitung von Guido Markowitz ausmacht, ist, dass Narrative des Gewohnten verlassen, der Rahmen gesprengt wird. In jeder Hinsicht: Ballett, das ist hier schon lange nicht mehr nur Spitzentanz - traditionelle Bewegungsmuster werden mit moderner Dynamik vermischt und dabei wird den Körpern der Ensemblemitglieder einiges abverlangt. So geschehen nicht nur im Schmuckmuseum, im Wasser des damals noch betriebenen Emma-Jaeger-Bades oder im sakralen Raum eines Kirchenschiffs – nun eben auch quasi unter Wasser im Gasometer Pforzheim und seinem derzeit weltweit größten 360-Grad-Rundbild des nordöstlich vor Australien liegenden Great Barrier Reef – dem größten von Lebewesen erbauten Struktur des Großen Barriere (Korallen-)Riffs.
Und da tauchen seltsame Wesen auf, eine Art weiße Krake kriecht die Metalltreppe empor, begibt sich bald wild gebärdend und erforschend zwischen und unter das Publikum, spielt Ball. Dann häutet sich das Wesen, entschwindet mit dem Queen-Musik verströmenden Smartphone im Dunkel – die größtenteils improvisierte „Intro“ des Choreografen-Kollektivs Linköping Schweden ist beendet.
Darauf folgen weiße Gestalten. Die fließenden Gewänder verbergen nicht, wie sehr die Strömung an den Körpern reißt in dem vom stellvertretenden Ballettchef Damian Gmür choreografierten Teil „Wolken die uns nicht tragen“. Eine faszinierende, gleichzeitig verstörende Kraft reißt an ihnen. Trägt sie, lässt sie fallen, reißt sie mit sich. Ein Mensch – die Menschheit? – hängt am Seil. Ergeben, dann wieder verzweifelt (und ästhetisch) strampelnd, verzweifelt rudernd, sich hingebend ans Schicksal. An seinem Leib hängen die TänzerInnen wie Schiffbrüchige.
Mal klingt die Musik wie ein Aufbrechen von Krusten, sich gewaltsam ans Licht bahnendes Leben. Dann wieder beschwört sie ein Bild von quietschenden Tauen, die mühsam das tropfende Schiff halten. Mit metallenem Klang schlägt es doch auf dem Meeresboden auf. Tänzer fallen zuckend zu Boden.
Dem gebürtigen Israeli Edan Gorlicki obliegt es, das Schiff des Abends in den dritten Teil zu lenken – „Diving the Yongala“, eine Mischform aus Theater und Tanz, und etwas Slapstick. Ein Taucher in Montur geleitet die Gäste flossenplatschend zum Ort des Geschehens, dem Aussichtsturm. Der wird sozusagen zum Ausguck der „Yongala“. Der Kapitän und seine Crew, koffertragende Touristen an Bord, bewegen sich in Zeitlupe auf verschiedenen Ebenen. Die ZuschauerInnen mittendrin. An Bord des 1911 durch einen Taifun vor der Ostküste gesunkenen Schiffs. Es wird hektisch, „the ship is sinking“! Der Masten hängt schräg, das Schiff kippt, man spürt den Sog nach unten, die Verzweiflung ist greifbar, am eigenen Körper spürbar. Wie ein Lauffeuer breitet sich vom Scheitel bis zur Sohle eine Gänsehaut aus. Es kommt der Moment, in dem sich der Kapitän verzweifelt an sein Steuerrad klammert. Und letztlich in schlangenhaften Bewegungen die Treppe hinuntergleitet, man hört das Wasser rauschen.
Und man kann gar nicht anders, als der Besatzung der „Yongala“ in die Tiefen zu folgen. Der Sog ist zu stark. Doch kurz vor der „Bewusstlosigkeit“ erreichen einen akustische Schimmer der Hoffnung. Die Crew der „Yongala“ hat sich ihrer Alltagskleidung entledigt und mutiert in dunkel glänzenden Anzügen schuppenhaft zu einem Fischschwarm. In der Tat ist die gesunkene „Yolanga“ heute eine der wichtigsten ökologischen Lebensräume.
Vielleicht haben die etwa 120 Gäste der Premiere anfangs noch irritiert im Trüben gefischt, nicht ahnend, was in den Tiefen des Great Barrier Reef auf sie warten würde. Herausgezogen haben sie eine Schatztruhe voller Sinnesfreude und Emotionen.
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