„Den Körper in den Kampf werfen“
Raimund Hoghe erhält im Oktober den Deutschen Tanzpreis
Preisverleihung mit internationalen Gästen und erstmals als Livestream
Alles war anders beim Deutschen Tanzpreis 2020 – dem bedeutendsten Preis für die Tanzkunst Deutschlands: Kein Schluss-Applaus oder anschließender Empfang. Die Zuschauer*innen trugen Maske und nur 20% der Publikums-Kapazität des Aalto-Theaters war zur prestigeträchtigen Veranstaltung zugelassen – dafür war diese erstmals auch per Livestream zu erleben. Die Tänzer*innen durften nur gemeinsam auftreten, wenn sie frequentiert getestet oder liiert sind. Dass die Preisverleihung dennoch stattfinden konnte, stellte sich zu einer Zeit, in der die Absage von Kultur zur schmerzlichen Realität geworden ist, als rar gewordenes Privileg dar. Als treibenden Motor verinnerlichten die Veranstaltenden – federführend der Dachverband Tanz Deutschland – daher den Grundsatz: Tanz bedeutet Leben, bedeutet Begegnung mit und durch Kultur, und zwar leibhaftig, nicht nur auf Distanz.
Die instabilen Strukturen der von der Pandemie existentiell bedrohten Tanz- und Kulturwelt wurden vor allem beim umrahmenden Symposium „Positionen: Tanz #3 Bedingungen“ thematisiert. Auch bei der Gala-Veranstaltung war Corona allgegenwärtig, jedoch eher strukturell als inhaltlich. Denn die Kernaussage war vielmehr das, was die weltweite Notlage zu Tage befördert hat: Wie essentiell wichtig ein Miteinander für Tänzer*innen, Künstler*innen – für Menschen – ist. Sollte man den diesjährigen Deutschen Tanzpreis unter ein Wort fassen, wäre es nicht Corona, sondern Vielfalt. Wie bunt die Farben des Tanzes sind, und das in der Diversität seine Stärke und Leuchtkraft liegt, wurde nicht nur bei dieser Feier des Tanzes zu ungewöhnlichen Zeiten deutlich, sondern bei den Preisträgern selbst.
Stellt der Kammertänzer des Stuttgarter Balletts Friedemann Vogel den Inbegriff des klassischen Tänzers dar, der als herausragender Interpret geehrt wird. So setzt sich die Hamburger Choreografin Antje Pfundtner in Gesellschaft für nachhaltige Diskurse im zeitgenössischen Tanz ein und sieht die größte Chance in einer kollektiven, in der Gesellschaft verankerten Teilhabe künstlerischen Wissens – als „einer nachhaltigen Selbstermächtigung der Szene“. Der multikulturelle Berliner Hip-Hop-Künstler Raphael Hillebrand kämpft mit seinen grenzüberschreitenden, interdisziplinären Arbeiten wiederum nicht nur für die Akzeptanz der urbanen Szene, sondern lehnt sich vor allem gegen die generelle „soziale Unwucht“ in unserem gesellschaftlichen System auf. Ein Solitär mit besonderer Strahlkraft ist der diesjährige Preisträger des Deutschen Tanzpreises 2020, der Tänzer-Choreograf Raimund Hoghe aus dem Kreis des deutschen Tanztheaters, der sowohl ästhetisch als auch politisch Maßstäbe setzt und brisante gesellschaftspolitische Themen mit der Schönheit seiner Kunst verbindet.
Das „Menschen-Gucken“ war nur eine verbindende Gemeinsamkeit vom Wuppertaler Raimund Hoghe mit der Tanzikone Pina Bausch, für die er nach seiner journalistischen Tätigkeit ein Jahrzehnt lang als Dramaturg gearbeitet hat. Denn gemeinsam war ihnen nicht nur die Suche von und ein unablässiges Experimentieren mit Schönheit in all ihren teils schmerzlichen Schattierungen, sondern vor allem das Interesse am Menschen – besonders an denjenigen am Rand unserer Gesellschaft. War es bei Bausch der mittels seiner Bewegung eine Geschichte erzählende Körper, so war das Medium der Darstellung bei Hoghe zunächst das Wort. Zum Tanz geboren, schien Raimund Hoghe mit seiner geringen Körpergröße und Rückgratverkrümmung keineswegs, und so betrat er erst mit über 40 die Bühne als Tänzer – dies, auf seine Weise, jenseits der Norm und Konvention. Die Aussage des italienischen Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini „Den Körper in den Kampf werfen“ ist längst zu seiner persönlichen künstlerischen Antriebsfeder geworden.
Unlösbar verbunden mit Hoghes Choreografien ist sein eigener, nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechender Körper, eingesetzt von ihm als stellvertretendes Symbol „für andere Körper, die nicht vorkommen“. Dies keinesfalls als abstrakter Begriff gemeint, denn eines der Merkmale seiner künstlerischen Arbeit ist gerade die konkrete Auseinandersetzung mit Einzel-Biografien. Für Raimund Hoghe, einem Virtuosen der Achtsamkeit, sind Leben und Kunst, Kunst und Realität untrennbar miteinander verbunden, weshalb eine innere Notwendigkeit für ihn darin besteht, „hinzuschauen“. Hinzuschauen, wo es am meisten weh tut, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird. Flüchtlinge, die unter unvorstellbar grausamen Umständen ihr Leben lassen müssen, ermordet werden – während Europa mehr zusieht, als aktiv hinzuschauen – sind Umstände, die für ihn nicht tragbar sind, und Gehör in seinen Stücken finden. Das viral durch die Medien gehende Bild des 2015 ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi, dessen Leichnam ans Ufer der türkischen Mittelmeerküste gespült worden war, etwa ist ein Bild, das Hoghe Anlass gibt, dessen symbolhafte Körperhaltung in einem seiner Stücke selbst einzunehmen – als lebendiges Mahnmal und Gedenken, als eine lautlose und dafür umso unüberhörbare Stimme des „Es darf nicht sein!“.
Legendär geworden ist Hoghes Art der Grenzbrechung: Kategorien wie „jung, alt, behindert, nicht-behindert, Ausländer“ interessieren Hoghe nicht, wenn es um ein unverwechselbares Unikat wie den Menschen geht. In der Begründung der Jury heißt es, mit Hoghe werde das „Lebenswerk eines Künstlers geehrt, der nie versucht hat, das System zu bedienen, sondern es mit ungewöhnlichem Mut und Einsatz zu verändern.“ Oder wie Tanzwissenschaftlerin Katja Schneider in ihrer ergreifenden Laudatio betont: Mit Raimund Hoghe werde ein „Künstler geehrt, der die Risse der Welt sieht und hört“ und sich auf beste Weise „weigert, zu vergessen“: Jemand, der nicht nur das Licht sucht, sondern auch das Kleine, scheinbar Unbedeutende und doch so Bedeutsame, aus der Dunkelheit emporhebt. „Ethik und Ästhetik“ seien bei Hoghe untrennbar miteinander verbunden, denn niemand ist raus, aus der Gesellschaft. Zum Abschluss ihrer Rede zitiert Schneider den Vers der Lyrikerin Rose Ausländer, welcher ein weiteres Lebensmotto im Hogh‘schen Sinne sein könnte: „Vergesset nicht, Freunde, wir reisen gemeinsam!“
Hinsehen, zuhören – hierfür stehen auch Raphael Hillebrand und Antje Pfundtner ein. Hillebrands bei der Tanz-Gala gezeigtes Solo „Auf meinen Schultern“ stellt nicht nur eine Liebeserklärung an seine Tochter dar, sondern vor allem ein Plädoyer gegen Ausgrenzung, Rassismus und Demütigung – dies effektvoll anhand einer virtuos gesprochenen und getanzten Performance zu klassischem Cello-Sound. Pfundtner präsentiert mit ihrem „Für diesen Anlass“ kreierten Tanzstück wiederum eine Collage vorangegangener Werke und bezieht sich auch hier direkt, mit einer für sie typischen Weise, auf ihr Publikum, ihre Gesellschaft des Abends, und lässt es nicht los – weder verbal, noch tänzerisch – mit ihrem inhaltlich sowie darstellerisch vielfältig verwendeten Satz „Ich steh auf“ – für Dich.
Abgesehen von den auf verschiedene Tanzstile setzenden Soloarbeiten wartete das Gala-Programm vor allem mit hochkarätigen Gästen der Ballettklassik auf: Ein Höhepunkt stellte gleich zu Beginn das Männerduett „Two and only“ der Choreografin Wubkje Kuindersmas dar, welches so eindringlich von verschiedenen Facetten der Liebe erzählt, dass Marijin Rademaker vom Het Nationale Ballet für seine Leistung bereits mit einer Nominierung des „Tanz-Oscars“, dem Prix de Benois, belohnt worden war.
Die Gastgeber-Kompanie Aalto-Ballett präsentierte sich – zeitweise mit Mund-Nasen-Schutz auf der Bühne – mit der kokett-verspielten Tanznummer zum gleichnamigen Chanson „Nathalie“ aus dem Ballettabend „La vie en rose“ des Essener Ballettintendanten Ben van Cauwenbergh.
Zu Recht als Sensation angekündigt, war Friedemann Vogel in seiner intensiven, physisch extrem präsenten Interpretation von Maurice Béjarts erotisch aufgeladenem „Boléro“ zu erleben – diese Choreografie gilt seit Jorge Donne oder Sylvie Guillem als Starvehikel und genießt Kultstatus. Vogel, der als bislang einziger Tänzer dreimal zum „Tänzer des Jahres“ der Kritikerumfrage „tanz“ gekürt worden war, konnte hier einmal mehr beweisen, warum: Mit unbändiger Verführungskraft und Bewegungsgewalt tanzte sich Vogel in Ekstase und gab sich in der lustvoll-sinnlichen Choreografie mit seinen nicht enden wollenden Versprechungen eines makellosen Körpers einem hypnotisierten Publikum hin. In der Corona-bedingten Fassung war das männliche Corps de ballet auf acht Tänzer reduziert, doch man hatte ohnehin nur Augen für ihn, als dem Spannungspol und Knotenpunkt!
Auf demselben Niveau der Weltklasse zeigten Lucia Lacarra und ihr Partner Matthew Golding als Sendboten des Dortmunder Balletts die Choreografie „Finding Light“ Edwaard Liangs. In gewohnt höchster tanztechnischer und darstellerischer Qualität präsentieren sich die beiden sublimen Tänzer im ewigem Fluss und einzigartiger Eleganz der Bewegung. Voll lyrischer Anmut schraubt und windet sich Lacarra um den athletischen Körper Goldings, um mit diesem dann wieder zu vollendeter Linie zu finden und gleichsam mit ihm zu verschmelzen – Ballett in seiner schönsten und reinsten Form.
Der dramaturgische Bogen zurück zu Raimund Hoghe gelang mit der vorletzten Präsentation, dem eindringlichen Duett „When I am Laid in Earth“, in der Choreografie Sidi Larbi Charkaouis vom Königlichen Ballett Flandern. Hier offenbarte sich ein elegischer Pas de deux, erfüllt von tiefstem Abschiedsschmerz von der Welt und versunken in die Klänge einer Arie aus Henry Purcells Oper „Dido und Aeneas“ – eine Arie, welche einst nicht zufällig Pina Bausch zum Substrat ihres legendären Tanztheaterstücks „Café Müller“ auserkoren hatte – und Sidi Larbi Charkoui als Hommage an sie.
Ein sichtlich ergriffener und zu Tränen gerührter Raimund Hoghe war schließlich zum krönenden Abschluss in seiner Choreografie „Canzone per Ornella“ zu erleben – an der Seite seiner langjährigen Vertrauten Ornella Balestra. Nachdem Hoghes Stimme aus dem Off vom grausamen Schicksal und der Abschiedsbotschaft einer jungen geflüchteten Frau an ihre Mutter erzählt, tritt Balestra als überlebensgroße Stabat-Mater-Figur mit schwarzer Sonnenbrille und Kleidung hervor, die scheinbar um ihre zahllosen verlorenen Kinder trauert. Den Eindruck der verlorenen, verrinnenden Lebenszeit hält Balestra auch in ihrem sich anschließenden „Armballett“ zu Tschaikowskis „Schwanensee“-Musik fest, welches sich jedoch vor allem als Verweis auf das ikonenhafte Solo des „Sterbenden Schwans“ Anna Pawlowas manifestiert. Hoghe, der ein Könner ist, das grausam Schicksalhafte mit dem überirdisch Schönen zu verweben, lässt seinen Tanzbeitrag nicht mit dem Tod und der Melancholie über das dahinrinnende Leben enden, sondern mit einem liebevollen, lebensbejahenden Duett zwischen ihm und seiner Muse. Behutsam führt die einstige Ballett-Diva die Arme des 71-jährigen Mannes – zerbrechlich und voll Stärke zugleich – und weist ihm die Sterne und den Mond. Eine liebevolle Geste, ähnlich derjenigen, wie eine Mutter ihr Kind durchs Leben leitet und führt. Nach den Sternen greifen und über die Schönheit der Welt staunen – manchmal tut Raimund Hoghe auch das, verbunden mit dem Kontrast grausamster Realität. Beides gemeinsam überführt Hoghe als zwei untrennbar miteinander verwobene Pole in die Traumwelt des Theaters. Und das meisterlich.
Die Gala-Veranstaltung des Deutschen Tanzpreises 2020 präsentierte sich mit intimer Kammerspiel-Atmosphäre als eine gelungene Hommage an einen Ausnahme-Künstler unserer Zeit. Hoghe bedankt sich als letzte Bilder dieses Tanzabends zu „ungewöhnlichen Zeiten“ mit demütiger Verbeugung vor jeder einzelnen Reihe im Publikum – das war mehr wert, als jeder Schlussapplaus. Raimund Hoghe bleibt ein Virtuose der kleinen Gesten mit ganz großer Aussagekraft – immer und immer wieder!
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