Die nächste Generation kommt
Choreografie ist Beruf, Handwerk und Talent. Ein Blick auf Weiterbildungsangebote in der Schweiz
Mit den nachstehenden Ausführungen möchte auch ich mich in die Diskussion an der Staatlichen Ballettschule Berlin und um sie herum einbringen. Ich arbeite seit über vier Jahrzehnten als Tanzjournalist und Redakteur für Zeitungen, Fachmagazine und Bucheditionen. Zudem bin ich seit mehr als 25 Jahren Lehrbeauftragter für Tanzgeschichte (Freie Universität Berlin, Palucca Hochschule für Tanz Dresden), seit gut zwölf Jahren in dieser Funktion nun an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Grund für diesen Text ist: Ich empfinde die gebetsmühlenartig sich wiederholende Berichterstattung über die Vorgänge an der Schule in der überwiegenden Zahl der TV- und Printmedien als oberflächlich (weil keine*r der Autor*innen es der Mühe wert gefunden hat, sich selbst ein Bild vom „Klima der Angst“ zu verschaffen), einseitig (weil sich die Anwürfe auf zu wenige persönliche Aussagen stützen) und ahnungslos (nach dem Prinzip der Doppelbesetzung, wie es in einem TV-Interview beklagt wurde, arbeitet jedes Theater der Welt!). Zu einigen grundsätzlichen Punkten möchte ich hier Stellung nehmen.
Bachelorstudium
Bis vor nicht so vielen Jahren lautete der Abschluss auch an unserer Schule: Staatlich geprüfter Bühnentänzer. Das war nur ein Zertifikat, das zum Einstieg in den Beruf reichte, die Tänzer*innen für das Danach, den zweiten Berufsweg, jedoch in keiner Weise vorbereitete. Härtefälle und sozialer Abstieg nach der Tanzkarriere waren oft die Folge. Bei der Agentur für Arbeit stand dieser Abschluss zumindest bislang nicht auf der Agenda gängiger Berufe, und das bedeutete: keinerlei Unterstützung bei einer gewünschten Umschulung. Beispiele hierfür machten in der Presse die Runde. Seit einigen Jahren spielt das Mitdenken der sogenannten Transition, also das Nachdenken über berufliche Möglichkeiten nach der Tanzkarriere, eine große Rolle. Hier hat auch die Staatliche Ballettschule Berlin gehandelt und bietet einen Studienabschluss, der den Studierenden später zahlreiche Wege des Umstiegs eröffnet. Der Erwerb eines Bachelor-Grades sichert Abgänger*innen aus dem Beruf, ob wegen Alters, Krankheit oder sich wandelnder Interessen, nun ab, denn als erster akademischer Grad ist er zugleich auch die Zugangsvoraussetzung für ein weiterführendes Studium oder eine Ausbildung. Dass ein Studium nach den Berufsjahren als Tänzer*in dann erneut vollen Einsatz erfordert, ist selbstverständlich.
Mit dem Bachelor-Grad, wie er an dieser Schule in Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch erworben werden kann, verhält es sich wie mit einer Professorenposition in der Kunst. Mir ist kein promovierter Maler oder Bildhauer bekannt; viele von ihnen haben dennoch eine Professur, etwa an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Verliehen wird der Titel einer Professur hier dann auf Grund einer künstlerischen Gesamtleistung. Ebenso verhält es sich mit dem Bachelor-Titel für die Absolvent*innen: Sie erhalten ihn nicht für eine rein universitäre Abschlussarbeit, sondern für ihre Gesamtleistung aus vielen praktischen und theoretischen Einzelprüfungen. Die eigentliche schriftliche Abschlussarbeit ist nur ein Teil davon.
Ein weiterer gewichtiger Aspekt für den Erwerb des Bachelor-Grades: Musiker*innen, Schauspiel*innen und Regisseur*innen kommen ans Theater allermeist mit einem Hochschulabschluss. Tänzer*innen sind nicht nur die jüngsten Bühnenkünstler*innen, sondern waren auch die akademisch am wenigsten qualifizierten und ihren Kolleg*innen intellektuell daher oft unterlegen. Mit ihnen hatten Direktor*innen und Intendant*innen folglich leichte Hand. Der Eintritt ins Theater als Bachelor of Art erhebt Tanzende auf Augenhöhe mit den Künstlern der anderen Sparten und verschafft ihnen das Ansehen, das sie auf Basis ihrer Leistung verdienen.
Gegen die Beibehaltung dieses Studiengangs, den die bisherige Schulleitung nach jahrelang zähem Ringen eingerichtet hat, leichtfertig zu polemisieren, ist fachlich widersinnig und im Interesse der Absolvent*innen für einen später gut geregelten Übergang ins zweite Berufsleben ausgesprochen kontraproduktiv.
Landesjugendballett
Fast alle an Theatern angesiedelten Ballett- und Tanzensembles mindestens der Bundesrepublik sind aus Kostengründen auf die personelle Mindeststärke reduziert. Kompanien mit lediglich acht Tänzer*innen, also vier Paaren, sind keine Seltenheit. In ihrer Not sind Direktionen deshalb auf die findige und auch verständliche, dennoch fragwürdige Idee gekommen, Planstellen zu halbieren und mit sogenannten Praktikant*innen oder Eleve*innen zu besetzen - und flugs hat die Kompanie nun mehr Tänzer zur Verfügung. Als solche „Praktikant*innen“ firmieren Absolvent*innen staatlicher Schulen, mit der Begründung, es fehle ihnen noch an Bühnenpraxis. So spart das Theater Geld und hat dennoch voll Ausgebildete zur Verfügung, die auch die volle Leistung wie ihre fest angestellten Kollegen erbringen.
Keine Physik-, Mathematik-, Jura- oder Ökonomieabsolvent*innen würden sich in ein derart entwürdigendes Praktikumsverhältnis bei zudem miserabler Entlohnung begeben. Tänzer*innen tun dies - nach neunjähriger, physisch enorm fordernder Ausbildung. Oder sie werden für im Schnitt zwei Jahre Mitglied einer „Juniorkompanie“, die mit gleicher Begründung dem Übergang in eine Festanstellung dient. Genau hier setzt die Idee des Landesjugendballetts Berlin an: den Student*innen bereits während des Studiums durch zahlreiche Auftritte jenes Maß an Bühnenerfahrung mitzugeben, das sie befähigt, gleich in eine Festanstellung zu wechseln. Der aktuelle Pressebrief der Schule weist aus: Studierende, die allein im Zeitraum eines Jahres in Mexiko und Peking, New York und Sankt Petersburg aufgetreten sind, in Produktionen des Staatsballetts Berlin mitgewirkt und eigene Galas absolviert haben, mussten sich auf die verschiedensten Bühnensituationen einstellen. Sie dürfen sich als erfahren ansehen und deshalb eine Festanstellung anstreben, angesichts auch ihrer ohnehin kurzen Karriere.
Weiterhin: Nie zuvor war die Staatliche Ballettschule Berlin international so gut vernetzt wie derzeit. Voraussetzung dafür war die geduldige „Knüpfarbeit“ der bisherigen Leitung. Die zunehmende Bekanntheit der Schule öffnet den Absolvent*innen viele Türen. Nicht zuletzt sprechen die Vermittlungserfolge für sich. Dass die Auftritte und ihre hinführenden Proben anstrengend sind und allen Beteiligten, Lehrer*innen wie Schüler*innen, ökonomischen Umgang mit Kraft und Zeit abverlangen, steht außer Frage. Bei guter Planung rechtfertigt der Zugewinn für die Studierenden jedoch den Aufwand. Deshalb darf auch das Landesjugendballett Berlin mit seinem singulären Repertoire aus Handlungsballetten und zeitgenössischen Stücken nicht zur Disposition stehen.
Ausländische Student*innen
Ballettkompanien sind weltweit hochgradig international. Die deutschen Ensembles bilden da keine Ausnahme. Zum einen stehen heute potenziellen Tanzstudent*innen alle Schulen der Welt offen, zum anderen hat sich herumgesprochen, dass der Tanz-Beruf neben wunderbar bereichernden Momenten auch seine Schattenseiten hat: Er ist enorm kraftzehrend, verlangt stets ganzen Einsatz und füllt nicht das gesamte Berufsleben aus. In Zeiten verstärkten Sicherheitsdenkens entscheiden sich deshalb Heranwachsende und ihre Eltern gern für einen „krisenfesten“ Beruf. Nur wer den Tanz wirklich und von Herzen liebt, nicht anders kann als tanzen, nimmt die Strapazen und Entbehrungen auf sich. Da steht der Tanz in einer Reihe mit anderen auf Hochleistung orientierten Ausbildungen, ob im Sport oder als Solist*in im Instrumentalbereich. Wer etwas erreichen will, muss zeitig beginnnen und auf manches verzichten. Hierzu sind zunehmend weniger Jugendliche einer Wohlstandswelt bereit. Tanzbegeisterte aus minder situierten Ländern würden sich gern ausbilden lassen, verfügen aber meist nicht über die nötigen Mittel. Es ist daher ein selbstverständlich modernes und globales Denken und ein zutiefst humanitärer Akt, dass die Schule weltweit nach Talenten fahndet und ihnen die Chance bietet, über ein aufwendig recherchiertes Stipendiensystem hier zu studieren. Exzellenten Begabungen ist so der Weg frei, den Traum vom Tanz Realität werden zu lassen und „nebenbei“ von ihrem späteren Tanzgehalt die oft mittellose Familie zu unterstützen.
Ausländische Studierende über Stipendien als Quereinsteiger an staatliche Schulen zu holen, ist mittlerweile gängige Praxis in nahezu allen vergleichbaren Ausbildungseinrichtungen. Dass Student*innen ihre gesamte Ausbildung an einer Schule absolvieren, ist nicht mehr die Regel. Vorgebildeten Talenten den letzten „Schliff“ zu geben, wird auch weiterhin wichtig sein – nicht zuletzt als Beweis sozialen Miteinanders aller Nationen und Kulturen auch in unserer Schule.
Gewichtsthematik
Wenn Tänzerinnen auf Spitze stehen, lastet kurzzeitig ihr gesamtes Körpergewicht auf wenigen Quadratzentimetern; nach Sprüngen müssen sie ihr Körpergewicht weich abfedern. Bei Hebungen spielt zwar die Armkraft des Mannes eine Rolle, mehr jedoch kommt es auf das Zusammenspiel beider Partner und das Sprungvermögen der Frau an. Grundsätzlich gilt: Jedes Kilo zuviel belastet sowohl die Füße und Gelenke der Frau als auch beim Heben die Wirbelsäule des Mannes. Ein Bandscheibenvorfall durch Heben zu schwerer Partnerinnen ist nicht selten die Folge.
Es dient daher der eigenen Gesundheitsprophylaxe und der des Partners, dass Mädchen ein ballettkonformes Gewicht haben. Das redet nicht Erkrankungen wie Anorexie oder Bulimie das Wort, wohl aber einer ganz bewussten Ernährung, am besten unter fachlicher Anleitung. Hinzu kommt, dass manche Mädchen in der Pubertät zeitweise etwas „auslegen“. Hier sind einfühlsame, wissende Lehrer*innen und Berater*innen gefragt, diesen Weg zu begleiten. Sind im freien Tanz mit seinem anderen Anliegen und seiner anderen Ästhetik den agierenden Körpern entschieden weniger Grenzen gesetzt, basiert der Theatertanz auf der Ästhetik des schmalgliedrigen, extrem schlanken, biegsamen, künstlerisch flexiblen Körpers.
Disziplin ja, Drill nein
Der Begriff Drill sollte dem Militär vorbehalten bleiben, weil es dort um eine rein formale Gleichheit von Körpern geht. Im Tanz sollte er keine Anwendung finden – es sei denn, man will den Theatertanz oder die Girl-Reihe im Friedrichstadt-Palast abschaffen. Hier geht es nicht um Drill, sondern um maximale künstlerische Gleichgestimmtheit als Gestaltungsmittel einer inhaltlichen Aussage, mithin um Erziehung nach ästhetischen Kriterien und nach einer Lehrmethode, die sich in 350 Jahren bewährt hat und sich gemäß aktuellen Anforderungen ständig selbst optimiert. Wie sonst wäre es möglich, dass bei gleicher Choreografie jede Tänzerin der Odette, Odile, Giselle, Aurora ihrer Rolle ein unverwechselbar individuelles Profil verleihen kann? Und wie wäre es möglich, dass die angeblich zu klassisch erzogenen Student*innen der Staatlichen Ballettschule Berlin in Choreografien von Marco Goecke und Wayne McGregor mit ihrem zeitgenössischen Zuschnitt und ihrer anderen Bewegungsqualität allerorts umjubelt werden?
Aufgabe der Ballettpädagog*innen ist nicht Drill, sondern alle Studendierenden an ihre Leistungsgrenzen zu führen - und diese Grenzen im Lauf der Ausbildung stetig zu erweitern. Gemütliche Ausbildung ist im Tanz ebenso wenig denkbar wie bei angehenden Pianist*innen. Die Frage ist aber schon, wie man Studierende motiviert, ob mit freundlicher Strenge oder diabolischer Lust. Jeder Ballettfan genießt den Zusammenklang der Tänzerinnen in den „weißen“ Bildern der großen Ballettklassiker. Gleichklang setzt harte Arbeit voraus, nicht jedoch verbissenes Schuften. Und hinter allem Einsatz von Schweiß und Muskelschmerz steht der tanzende Mensch als Mittler von Kunst.
Pädagogisches Fehlverhalten
Grobes Fehlverhalten Schüler*innen gegenüber darf nicht hingenommen werden, ist konsequent zu untersuchen und auch zu ahnden. Dabei sollten Anschuldigungen jedoch nicht aus der bequemen Deckung der Anonymität vorgebracht werden. Das betrifft beispielsweise auch die Frage, welche Lernenden wegen welcher Pädagog*innen die Schule verlassen haben oder verlassen wollen. Dies erfordert Mut seitens der Lernenden und bietet den betreffenden Lehrenden Gelegenheit, sich zu äußern und gegebenenfalls ihr Lehrkonzept zu überdenken. Nur so ist eine saubere Klärung vermeintlicher oder tatsächlicher Übergriffe welcher Art immer möglich: mit dem Ausblick auf Verbesserung der Situation. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass auch Pädagog*innen in Theorie und Praxis unter einem gewissen Leistungsdruck stehen und in ihrer täglichen Arbeit bei allem Bemühen fehlbare Menschen bleiben.
Ausblick
Wünschenswert wäre eine engere Zusammenarbeit von Theorie und Praxis, ein Mehr an Verständnis für die jeweiligen Probleme und Bedenken, ein besser abgestimmtes System der Unterrichtsstunden, um die berufsbedingten Fehlzeiten von Student*innen durch Auftritte abzufedern, etwa durch kompakte Nachholunterrichte, gegebenenfalls im Einzelbetrieb wie beim Leistungssport. Fakt bleibt: Solange unsere Gesellschaft weiterhin strikt nach dem Leistungsprinzip funktioniert, wird auch die Tanzausbildung nicht für alle und nicht immer eine Insel der Seligen sein können.
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