Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Es ist nicht immer von Vorteil, wenn man verschiedene Versionen eines Stückes kennt, vor allem, wenn sie in der Vergangenheit von überragenden Tänzerpersönlichkeiten getanzt wurden. Die Bilder sind in der Erinnerung stark geprägt von deren Qualität und Intensität dieser Darstellungen. Und so muss man sich erst einmal diese Prägung aus dem Kopf schlagen, damit man dieser nunmehr sechsten Version von John Neumeiers „Hamlet“-Interpretation gerecht werden kann. Sinnigerweise hat der Hamburger Ballettintendant dem Titel das Kürzel der Jahreszahl beigefügt: „Hamlet 21“ – so kann man sich das Entstehungsjahr gut merken.
Es sind vor allem zwei Tänzerpersönlichkeiten, die auch in dieser neuen Version dem Stück ihren individuellen Stempel aufdrücken: Sasha Trusch (der ursprünglich als zweite Besetzung vorgesehen war und für den erkrankten Edvin Revazov eingesprungen ist) und Hélène Bouchet. Ohne diese beiden wäre das ohnehin schon recht sperrige Stück noch schwerer zu verstehen. Denn Neumeier hat einige Szenen drastisch gekürzt, das Ganze dabei aber noch mehr ineinander verschachtelt und inhaltlich aufgeladen, so dass man Mühe hat, dem Geschehen wirklich zu folgen, ohne den Spannungsbogen zu verlieren. Und der bricht eben aufgrund dieser vielfachen Komprimierungen dann doch oft ab.
Es ist wie so oft bei Neumeiers Werken: Man muss sie eigentlich viele Male sehen, um all die Details zu erkennen, die Vielfalt der Choreografie zu verstehen und das Stück in seiner Komplexität wirklich zu erfassen. Noch dazu, wenn es begleitet wird von der nicht minder sperrigen Musik Michael Tippetts. Wobei das Hauptmanko darin besteht, dass sie nicht live gespielt wird. Das ist mühsam zu hören, weil sich die Musik im Raum verliert, sie zieht sich und verfliegt, ohne den Tanz wirklich zu tragen. Das wird noch verstärkt durch den weiterhin spärlich besetzten Zuschauerraum, denn die Energie eines ausverkauften Saales überträgt sich auf die Tänzer*innen und schafft eine andere, ungleich dichtere Atmosphäre. Ohne sie verliert das Stück an vielen Stellen die innere Stringenz, den großen Bogen, und kommt immer wieder bruchstückhaft daher, wie eine Aneinanderreihung von Episoden. Da hilft es auch nicht, dass Neumeier erklärende Worte sprechen und simple Tafelanschriebe vornehmen lässt – in dieser Art wirkt das eher hilflos und ist inhaltlich ohnehin überflüssig, auch wenn Ivan Urban einen beklemmend dämonischen Polonius gibt, dem sich die Schüler Hamlet und Horatio (Nicolas Gläsmann) unterzuordnen haben.
Die stärksten Momente hat der Abend in den Pas de Deux: vor allem dem zwischen Hamlet und seinem Vater Horvendel (dem der hochgewachsene Florian Pohl eine eigene, fast schon majestätische Prägung verleiht), in dem der Vater dem Sohn aufträgt, seinen Tod zu rächen, sowie Hamlet und seiner Mutter. Schon dafür ist dieses Stück sehenswert – vor allem aber wegen seiner Komplexität, die von den beiden Hauptprotagonisten voll ausgelotet wird: Hamlets Zerrissenheit weiß Sasha Trusch mit einer unglaublichen Intensität zu vermitteln, was nicht nur wegen der anspruchsvollen Choreografie, sondern auch bei einem derart leeren Auditorium mental-seelisch ein Kraftakt ohnegleichen ist. Aber dieser Tänzer hat nicht nur eine wunderbare Sprungkraft und technische Präzision – die Verve, mit der er sich in die schwierige Rolle des Hamlet wirft und sie ausfüllt vom kleinen Zeh bis in die Haarspitzen, ist sensationell. Nicht minder beeindruckend die Eleganz und Souveränität, die edle Linie und Intensität von Hélène Bouchet, die all ihre Reife und Erfahrung, aber auch ihre französische Noblesse und eine tief empfundene Fraulichkeit in die Darstellung von Hamlets Mutter Geruth legt. Das ist nicht weniger begeisternd und macht immer wieder staunen.
An diesen beiden wird augenfällig, wie sehr es bei Neumeiers Stücken immer wieder darauf ankommt, dass sie von einer Tänzerin oder einem Tänzer ganz von innen heraus erfüllt werden. Wo das nicht so gut gelingt – wie z. B. bei der Ophelia Anna Lauderes, die eher blass bleibt (und man vermisst gerade hier wieder einmal schmerzlich Anna Polikarpova, die diesen Part vor Jahren so einzigartig auszufüllen wusste) – da fällt die Spannung ab, da erreicht der Tanz nicht die Herzen der Zuschauenden, da will der Funke nur schwer überspringen.
Félix Paquet tanzt Fenge, Horvendels Bruder und Geruths heimliche Liebe, leichtfüßig und fast ein wenig zu brav. Die Männer des Corps de Ballet dagegen werfen sich mit Elan in die vielen kriegerischen Szenen und wirbeln fahnenschwingend über die Bühne. Christopher Evans ist ein ebenso kriegerischer wie draufgängerischer norwegischer König. Aleix Martínez, David Rodriguez und Illia Zakrevskyi irrlichtern als Gaukler durch die Szenerie.
Klaus Hellenstein gab dem Ganzen mit einem ebenso schlichten wie flexiblen Bühnenbild und sehr schönen fließenden Kostümen den passenden Rahmen. Bleibt zu wünschen, dass dieses Stück in der nächsten Spielzeit vor ausverkauftem Haus mit Live-Musik aus dem Graben gespielt werden kann und damit eine überzeugendere Dimension gewinnt, die ihm noch mehr gerecht wird.
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