„Wendung” von John Neumeier, Hélène Bouchet, Ensemble
„Wendung” von John Neumeier, Hélène Bouchet, Ensemble

Eine Gala der Melancholie

Die Nijinsky-Gala beschließt die Hamburger Ballett-Tage

Sie gestaltete sich sehr nachdenklich und nur geringfügig kürzer als sonst: die Nijinsky-Gala war Höhepunkt und Abschluss der diesjährigen Ballett-Tage, die zu einer melancholischen Rückschau auf höchstem Niveau geriet.

Hamburg, 29/06/2021

Lange sei es unsicher gewesen, ob es dieses Jahr überhaupt Ballett-Tage geben könnte, geschweige denn eine Gala zum Abschluss – die Freigabe dafür kam kurzfristig, und deshalb, so John Neumeier in seiner Moderation bei der Nijinsky-Gala am vergangenen Sonntag, „musste es dann ganz schnell gehen“ mit der Organisation. Er sagte das schon fast entschuldigend für die im Vergleich zu sonst im Programm etwas reduzierte Nijinsky-Gala, die statt fünf „nur“ vier Stunden dauerte…

Dieses Pardon wäre gar nicht nötig gewesen, denn sowohl die Ballett-Tage als auch die Gala gerieten zu einer vielfältigen Werkschau des Hamburger Ballettintendanten. Zwei Wochen lang zeigte John Neumeier täglich eines seiner Stücke (manche davon doppelt), das unter den eingeschränkten Bedingungen eben gezeigt werden konnte. Wo es möglich war – bei „Beethoven II“ zum Beispiel – saßen die Musiker*innen auf der Bühne (siehe unsere Besprechung vom 1. Juni 2021), ansonsten kam die Musik vom Band (wie bei Hamlet 21) oder es spielten einzelne Musiker (z. B. bei „Ghost Light“) bzw. es gab Kammermusik. Bei der Nijinsky-Gala wurde sie wunderbar gespielt von Joanna Kamenarska (Violine), Annabelle Dugast (Violine), Thomas Rühl (Viola), Yuko Noda (Violoncello) und Sebastian Gaede (Violoncello). Und da die Musiker*innen gerade an diesem Abend so inbrünstig und hingegeben wie selten spielten, war es tatsächlich so, dass man das große Orchester nur ein kleines bisschen vermisste – es ist einfach eine andere Stimmung im Raum, wenn der vollbesetzte Graben den Tänzer*innen einen voluminösen Klangteppich unter die Füße legt, ganz zu schweigen von einem ausverkauften und bis auf den letzten Platz besetzten Auditorium.

Die Tänzer*innen dagegen durften wieder fast normal auftreten – denn der Hamburger Ballettintendant hatte schon Ende April 2020 dank seines unermüdlichen und hartnäckigen Einsatzes bei Behörden und Ämtern, bei Betriebsrat und Verwaltung dafür gesorgt, dass sein Ensemble wieder im Ballettzentrum und in der Oper trainieren und proben konnte. Und auch wenn ab November 2020 bis in den späten Mai 2021 hinein sieben Monate lang keine Auftritte möglich waren, so blieb das Ballett doch nicht untätig. Neben der Arbeit am Feinschliff von Neumeiers Kreationen entstanden drei Filme als Dokumentationen, ein Glücksfall schier, denn die leere Oper bot den Kameras freie Bahn. So gibt es jetzt „Ghost Light“, „Beethoven I“ und neuerdings auch „Ein Sommernachtstraum“ auf DVD, letzteres sicher eines der schönsten Ballette, die Neumeier je geschaffen hat – im phänomenalen Bühnenbild und den nicht minder großartigen Kostümen von Jürgen Rose.

Und doch war die Corona-Krise auch diesen Ballett-Tagen anzumerken: Es gab kein Gastspiel einer auswärtigen Kompanie – die Reisebeschränkungen und die in Hamburg immer noch sehr strengen Hygienemaßnahmen verboten das ebenso wie die Einladung von Gastsolist*innen für die Gala. Mit einer Ausnahme: Ida Praetorius, Astrid Elbo und Ryan Tomash waren vom Königlich Dänischen Ballett aus Kopenhagen angereist – das ist bei Hamburg ja fast um die Ecke, und die Dänen sind in Sachen Corona ohnehin etwas unerschrockener als die Deutschen.

Und so war diese Gala eben auch ein Spiegel des Gesamtgeschehens – es war eine seltsame Spielzeit mit gerade mal sechs verschiedenen Programmen statt der sonst üblichen 16 bis 18, und es ist eine seltsame Zeit, in der wir gerade leben. In diese Gemengelage und nach einer solchen Spielzeit hätten die sonst üblichen Gala-Bravourstückchen nicht gepasst. Deshalb ist es John Neumeier hoch anzurechnen, dass er nicht der Versuchung erlegen ist, die Stimmung künstlich mit oberflächlich Heiterem aufzupolieren – er hatte schon immer ein sehr feines Gespür für die passende Dramaturgie seiner Präsentation. An diesem Abend legte er ein weiteres Mal Zeugnis davon ab – mit einer ganzen Reihe von intensiven Pas de Deux und einigen wenigen Ensembles, in denen das Corps de Ballet ebenso wie die Solist*innen ihr Können unter Beweis stellen konnten. Und das taten sie aufs Feinste – mit überragendem Einsatz und großer Tanzfreude.

Den Anfang machte wie immer das Bundesjugendballett mit „Einsame Verbundenheit“, ein etwas bemühtes Stück von Raymond Hilbert zum Streichquartett in c-Moll von Franz Schubert. Vorab las Isabella Vertes-Schütter, Intendantin des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters, mit ruhiger, eindringlicher Stimme einen Text von Paolo Giordano „In Zeiten der Ansteckung“.

Gleich danach einer der Höhepunkte des Abends: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko mit einem Ausschnitt aus Neumeiers „Nocturnes“ zu Musik von Frédéric Chopin. Einmal mehr wurde da augenfällig, wie wertvoll gerade die reifen, älteren Tänzer*innen sind – von ihnen lernen die Jungen. Leider setzt Neumeier gerade diese Preziosen in seiner Kompanie viel zu selten ein. Die beiden Ersten Solist*innen machten vor, wie man eine in sich verschachtelte, höchst anspruchsvolle Choreografie so transparent macht, dass sie die Zuschauenden erreicht und mitten ins Herz trifft. Grandios.

Anschließend ein Ausschnitt aus „Beethoven II“, in dem Ida Praetorius an der Seite von Aleix Martínez den Part von Hélène Bouchet übernahm und ihm eine ganz eigene Kostbarkeit verlieh, fein und zurückgenommen, nie übertrieben, nie aufdringlich, und doch ganz da. Anna Laudere und der noch nicht wieder ganz genesene Edvin Revazov zeigten einen Pas de Deux aus „Ghost Light“, einfühlsam begleitet von Michal Bialk am Klavier, der die Schubert-Impromptus ungemein sensibel interpretierte.

Höhepunkt Nummer zwei war der von Neumeier eigens für die Gala choreografierte Pas de Deux „Peter und Igor“ für zwei Tänzer, in dem er die Verehrung von Igor Strawinsky für Peter Tschaikowsky thematisiert. Alessandro Frola und Jacopo Belussi zünden hier ein Feuerwerk an Tanzkunst – und man fragt sich staunend, wer von beiden jetzt der Gruppentänzer und wer der Erste Solist ist… Alessandro Frola erinnert hier in seiner unglaublichen Intensität und Musikalität, mit seinem hochgewachsenen schlanken Körper und seiner für sein jugendliches Alter phänomenalen Präsenz an den unvergesslichen Max Midinet, der so vielen frühen Neumeier-Werken seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hat. Was für ein Talent!

Höhepunkt Nummer drei folgte unmittelbar danach: Die Gäste aus Dänemark, Astrid Elbo und Ryan Tomash, zelebrierten den schwierigen Pas de Deux aus Neumeiers „Othello“ – selten hat man das so innig, so fein und zart getanzt gesehen wie von diesen beiden. Schon allein Astrid Elbos Hände waren so sprechend, dass sie die ganze Geschichte erzählt haben … Es war ein einziges Gebet, eine Huldigung an die Liebe – kongenial ergänzt durch Michal Bialk am Klavier und Joanna Kamenarska an der Violine, die Arvo Pärts Musik so transparent und ätherisch spielten, wie man das nur spielen kann.

Mit dem nachfolgenden Stück – „Wendung“ zu einem Streichquartett von Franz Schubert – erinnerte Neumeier an die am 9. Mai überraschend an den Folgen eines häuslichen Unfalls gestorbene frühere Erste Solistin Colleen Scott, die zusammen mit ihrem Mann Ivan Liska 1996 nach München ging und dort viele Jahre als Ballettmeisterin und Coach wirkte. In „Wendung“ hatte sie selbst getanzt, und es war bewegend, wie hingegeben Hélène Bouchet, Leslie Heylmann und Yun-Su Park zusammen mit den Tänzerinnen des Corps de Ballet ihrer im Tanz gedachten. Noch einmal sprach zu diesem Anlass Isabella Vertés-Schütter – dieses Mal die „Todes-Erfahrung“ von Rainer Maria Rilke.

Im zweiten Teil der Gala Höhepunkt Nummer vier: der Schluss aus Neumeiers „Die Glasmenagerie“, phantastisch getanzt von Alina Cojocaru (die sich nach der Geburt ihres zweiten Kindes bereits wieder in Top-Form zeigte) als Laura, Patricia Friza als ihre Mutter Amanda, Félix Paquet als ihr Bruder Tom, Ryan Tomash als Tennessee, Christopher Evans als Jim, Olivia Betteridge als Betty und David Rodriguez als Das Einhorn. Sie alle bewiesen einmal mehr, dass gerade dieses Stück zu den herausragendsten im Gesamt-Oeuvre John Neumeiers gehört. Und wie sehr so ein Stück davon lebt, dass die Protagonist*innen wirklich alles geben, sich komplett entäußern, um die Charaktere lebendig werden zu lassen. Das war große Kunst – ganz große Tanzkunst.

Höhepunkt Nummer fünf und das einzige Stück, das Witz und Heiterkeit verströmte, aber auf so raffinierte und spritzige Art und Weise, dass es wunderbar zu den ansonsten eher getragenen Stücken passte: „I Got Rhythm“ aus „Shall We Dance“ zu Musik von Leonard Bernstein. Madoka Sugai und Alexandre Trusch beherrschten die höllisch schwierigen Schrittfolgen souverän und übertrafen sich gegenseitig an Bravour!
Den wiederum besinnlichen Abschluss machte das Finale aus „Ghost Light“, bereichert um alle Gäste, die an diesem Abend aufgetreten waren, ein absolut stimmiges Bild für diesen eher leisen, in sich gekehrten und gerade deshalb sehr bewegenden Abend.

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