„Beethoven II“ von John Neumeier; Madoka Sugai, Alexandre Trusch
„Beethoven II“ von John Neumeier; Madoka Sugai, Alexandre Trusch

Neustart nach sieben Monaten

Uraufführung von „Beethoven-Projekt II“ beim Hamburg Ballett

John Neumeier und seine Kompanie melden sich mit einer schon für den Herbst 2020 geplanten Uraufführung zurück. "Beethoven-Projekt II" bringt Neues und Bekanntes zugleich.

Hamburg, 01/06/2021

Es war – voraussehbar – ein Moment großer Rührung, als John Neumeier persönlich am 29. Mai das auf 400 Personen reduzierte Publikum in der Hamburgischen Staatsoper nach siebenmonatigem, Corona-bedingtem Auftrittsverbot begrüßte: „Zu sagen, dass ich mich freue, Sie zu sehen, wäre absolut untertrieben“, und fuhr mit tränenerstickter Stimme fort: „Das Ballett ist immer in Bewegung geblieben, nur konnte es niemanden bewegen.“ Es ist sicher eines von Neumeiers großen Verdiensten, dass er schon früh – im April 2020 – unermüdlich in zahllosen Gesprächen und Verhandlungen mit den beteiligten Behörden und Institutionen dafür gesorgt hatte, dass die Tänzer*innen dank eines ausgeklügelten Hygienekonzepts so schnell wie möglich aus der häuslichen Verbannung wieder in die gut zu lüftenden Säle des Ballettzentrums zurückkommen durften. Und wohl noch nie war Neumeier selbst so lange und so konsequent vor Ort, um mit seiner Kompanie zu proben, wie in den vergangenen Monaten.

Die Uraufführung des zweiten Teils seiner Hommage an Ludwig van Beethoven anlässlich dessen 250. Geburtstags im Jahr 2020 musste dann noch sage und schreibe sieben Mal verschoben werden, bis es endlich jetzt so weit war. Allerdings unter weiterhin erschwerten Bedingungen: Jede*r Besucher*in musste entweder einen negativen Corona-Schnelltest vorweisen, der nicht älter als 12 Stunden sein durfte, oder einen PCR-Test (nicht älter als 48 Stunden), oder einen Corona-Genesungs-Nachweis (nicht älter als sechs Monate) oder eine zweimalige Impfung (deren zweiter Termin mehr als zwei Wochen her sein muss). Und obwohl das knapp 1.700 Plätze fassende Opernhaus nur zu einem Viertel (!) besetzt war und – laut eigenem Bekenntnis des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda – „einer der Corona-sichersten Orte der Stadt“ ist, musste während des gesamten Aufenthalts im Gebäude, auch während der Vorstellung, die Maske aufbehalten werden (worüber die Saalschließer*innen akribisch wachten). Und was ursprünglich als Choreografie auf Beethovens Neunte Sinfonie geplant war, wurde jetzt zu einem zweiteiligen Beethoven-Abend, denn der Auftritt eines Chores mitsamt groß besetztem Orchester bleibt wohl noch für geraume Zeit eine Wunschvorstellung.

So umfasst denn „Beethoven II“ einen eher kammermusikalischen ersten Teil, bestehend zum einen aus einer „Hausmusik“ für Klavier und Violine – einfühlsam gespielt von der japanischen Pianistin Mari Kodama, deren Mann, Generalmusikdirektor Kent Nagano, das Orchester leitete, und Anton Barachovsky, Erster Konzertmeister beim Bayerischen Symphonieorchester und dem Hamburg Ballett seit vielen Jahren verbunden. Zum anderen aus Rezitativ und Arie „Christus am Ölberge“ op. 85, wo Klaus Florian Vogt einen glockenklaren Tenor erklingen ließ – der Stimme hat der Lockdown ganz offensichtlich gut getan. Und zum Abschluss dann noch Beethovens „Waldstein-Sonate“. Teil 2 nach der Pause steht dann unter der Überschrift „Tanz!“ und umfasst Beethovens 7. Sinfonie, die sich wunderbar für den Tanz eignet (wie schon Uwe Scholz 1991 in seiner fulminanten Choreografie für das Stuttgarter Ballett unter Beweis gestellt hatte). Das streng geometrische Bühnenbild Heinrich Trögers, ursprünglich für die Neunte Sinfonie entworfen, wurde an die neuen Bedingungen angepasst, und so steht jetzt auf der Empore im Bühnenhintergrund, wo eigentlich der Chor platziert werden sollte, ein einsamer Flügel, um den sich immer wieder mal Tänzer*innen gruppieren, was allerdings doch nicht so ganz zum Gesamtbild passt – vielleicht hätte man diesen Platz besser bewusst leer gelassen. Das Orchester spielt im hinteren Teil der offenen Bühne, die – den Graben überbauend – bis zu den leer gelassenen ersten Sitzreihen vorgezogen wurde. Den Bereich der Tänzer*innen markiert ein weißer Ballett-Teppich.

Wie schon in seinem im Sommer 2018 aus der Taufe gehobenen „Beethoven-Projekt“ stellt Neumeier auch im ersten Teil von „Beethoven II“ den Komponisten selbst in den Mittelpunkt, verkörpert wiederum von Aleix Martínez in Jeans und schwarzem T-Shirt, der ab der nächsten Spielzeit zum Ersten Solisten ernannt wurde. Er muss sich hier der Tatsache stellen, seines Gehörs in absehbarer Zeit gänzlich verlustig zu gehen. Neumeier inszeniert das choreografisch auf verschiedene Weise, wobei die Pas de Deux mit der hocheleganten, sensiblen Hélène Bouchet zu den Höhepunkten des Abends gehören, auch wenn die beiden von der Größe her nicht ideal zueinander passen. Eher fragwürdig dagegen die oft etwas seltsam anmutenden, unbeholfenen Verrenkungen, die Neumeier Aleix Martínez in den Soli immer wieder verordnet – da fragt man sich oft, warum das so sein muss.

Rezitativ und Arie „Christus am Ölberge“ bestreitet Martínez zusammen mit Jacopo Bellussi – da zeigt sich die Trauer um den Verlust des Gehörs tänzerisch schon schlüssiger. Zur „Waldstein-Sonate“ finden sich vier Paare mit Bouchet/Martínez und dem Ensemble zusammen. Hier stechen vor allem Madoka Sugai, Yaiza Coll (die ab der kommenden Spielzeit zur Solistin avancierte), Patricia Friza und Yun-Su Park heraus. Von ihren Partnern fallen Marc Jubete (der das Ballett leider verlassen wird) sowie Matias Oberlin und David Rodriguez ins Auge.

Und auch wenn es mit der Neunten Sinfonie vorläufig nicht geklappt hat, so ist der zweite Teil des Abends mit der Siebten Sinfonie doch eine einzige Ode an die Freude des Tanzens. Die blutjunge Ida-Sofia Stempelmann wirft sich mit vollem Elan in ihren Part, ebenso Atte Kilpinen (der dem Ensemble bisher als Gruppentänzer, ab der nächsten Spielzeit als Solist angehört). Zu dem zurückhaltend-elegischen zweiten Satz der Sinfonie hat Neumeier einen sehr feinen, ruhigen Pas de Deux für Anna Laudere und den etwas füllig gewordenen Edvin Revazov kreiert, die beide darin aber relativ farblos bleiben.

So richtig geht die Tanz-Sonne erst auf, wenn sich im dritten Satz der Sinfonie die großartige Madoka Sugai dem nicht minder großartigen Alexandre Trusch in die Arme wirft und mit ihm einen hochdynamischen, begeisternden Pas de Deux entfesselt. Das ist Tanzkunst auf höchstem Niveau und versöhnt mit diversen, weniger nachvollziehbaren Slapstick-Einlagen. Warum Sasha Trusch zum Beispiel völlig unmotiviert allein eine Banane (!) schälen und verspeisen muss, wird wohl Neumeiers Geheimnis bleiben. Hin und wieder sind auch deutliche choreografische Anklänge an frühere Stücke Neumeiers unverkennbar. Beim Corps de Ballet fällt insbesondere Alessandro Frola mit hoher Expressivität und feiner Linie ins Auge – da wächst ein ganz großes Talent heran.

Alfred Kriemler („Akris“) kleidete sowohl die Pianistin als auch die Tänzer*innen in fließende Gewänder in klaren Farben. Im ersten Teil dominieren Schwarz und Grün, bei der siebten Sinfonie markieren die Farben die jeweiligen Sätze: schwarz/weiß den ersten, blau den zweiten, rot den dritten und gelb/grau den vierten.

Die Philharmoniker spielen die Siebte in deutlich reduzierter Besetzung, was dem Stück nicht gut bekommt – so ein Meisterwerk braucht einfach ein voll besetztes Orchester, um seine Magie entfalten zu können. Dass es dabei auch noch einige rhythmische Unsauberkeiten gab – geschenkt. Bleibt abzuwarten, wie sich das Stück in der zweiten Besetzung präsentiert und vor allem unter normalisierten Bedingungen, die wir uns für die nächste Spielzeit wünschen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern