Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Wieder einmal hatte John Neumeier mit gekonnter Dramaturgie zum Abschluss der Spielzeit eine Folge von tänzerischen Höhepunkten zusammengestellt: „Anniversaries“ hieß das Motto des Abends – und er zündete damit eine Serie von Highlights aus der Welt des Tanzes. Denn das Tolle am Ballett sei, so Neumeier in seiner Anmoderation des Abends, dass es aus der Vergangenheit Gegenwart mache.
Los ging’s aber erstmal mit einer Solidaritätserklärung an die Ukraine – mit einem „Gopak“ in der Choreographie des gebürtigen Ukrainers Konstantin Tselikov, in der die Theaterklassen VII und VIII der Ballettschule des Hamburg Ballett mit Bravour ihr Können unter Beweis stellten, gefolgt von „Opus 67“ von Raymond Hilbert, einem Ausschnitt aus „Die Unsichtbaren“ mit dem Bundesjugendballett (siehe tanznetz vom 22. Juni 2022), das nunmehr schon mehr als zehn Jahre besteht.
Nur zwei Jahre ist es her, dass Neumeier im Rahmen der Corona-Krise das Ballett „Ghost Light“ aus der Taufe hob, das wie kaum ein anderes die Stimmung aufgreift, die so viele Kulturschaffende im Sommer 2020 erfasst hatte, in dieser lähmenden Zeit, als die Theater geschlossen waren. Schon früh hatte Neumeier damals seine Tänzer*innen mit einem aufwändigen Hygiene-Konzept wieder ins Ballettzentrum zurückgeholt und mit ihnen dieses Stück erarbeitet – ein Rettungsanker mitten im Desaster der Corona-Krise. Im Rahmen der Gala waren daraus zwei der schönsten Pas de Deux zu sehen: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Matias Oberlin und David Rodriguez (der noch am selben Abend zum Solisten befördert wurde) legten mit hoher Emotionalität alle Sehnsucht nach Begegnung und Normalität in ihren Tanz.
Gut 30 Jahre ist es her, dass Neumeier „A Cinderella Story“ schuf – ein zeitlos schönes Ballett, aus dem Madoka Sugai und Alessandro Frola einen Pas de Deux zeigten. Einmal mehr wurde das enorme Talent des erst 22-jährigen Italieners deutlich, der in der nächsten Spielzeit dem Ensemble als Solist angehören wird.
An die Geburt des großen Ballettimpresarios Serge Diaghilew vor 150 Jahren erinnerten zwei Ausschnitte aus Neumeiers 2000 kreiertem Ballett „Nijinsky“, bei dem Marc Jubete als Faun ein letztes Mal für das Hamburg Ballett auf der Bühne stand – er verlässt die Kompanie leider mit dem Ende der Spielzeit und wendet sich neuen Aufgaben zu. Ida Praetorius als Romola Nijinska entwickelt in diesem Pas de Trois noch nicht ganz das Selbstbewusstsein, mit der Romola während der Überfahrt mit dem Schiff von Europa nach Buenos Aires seinerzeit den legendären Tänzer und Choreographen für sich gewann, während Alexandre Riabko mit der gewohnten Sicherheit und Präsenz Vaslaw Nijinsky Kontur gab. Man sieht diesen wunderbaren Tänzer, der in der nächsten Spielzeit als Sonderdarsteller tätig sein wird, leider viel zu selten auf der Bühne.
Runde 50 Jahre ist es her, dass John Neumeier seinen „Nussknacker“ schuf, der zuerst in Frankfurt am Main, danach in Hamburg auf die Bühne kam und seither ein Dauerbrenner um die Weihnachtszeit ist. An diesem Abend verabschiedete sich Leslie Heylmann mit dem großen Pas de Deux als Louise von der Bühne. Von der Semper Oper in Dresden kommend tanzte sie seit 2008 beim Hamburg Ballett, seit 2011 als Solistin und ab 2012 als Erste Solistin. Sie wird der Kompanie als Mitglied im Team der Ballettschulleitung erhalten bleiben.
Nach diesen vielen Neumeier-Jubiläen dann einer der Höhepunkte des Abends: Mayara Magri und Matthew Ball vom Royal Ballet in London zeigten einen Pas de Deux aus Kenneth MacMillans „Carousel“ (dessen Stoff John Neumeier mit „Liliom“ bearbeitet hat), und sie taten das auf so wundervoll kraftvoll-frische und natürliche Weise, dass es eine Lust war, ihnen zuzusehen. Einmal mehr wurde gerade auf leerer Bühne ohne Kulissen deutlich, wie großartig MacMillans Bewegungssprache ist.
Höhepunkt Nummer zwei war eine Remineszenz an den 90-jährigen großen Hans van Manen: „3 Gnossiennes“ zu Musik von Erik Satie, einfühlsam gespielt von Michal Bialk. Olga Smirnova, frühere Primaballerina am Bolshoi-Theater, die nach Putins Angriffskrieg ihre Heimat verlassen hat und inzwischen beim Het Nationale Ballet in Amsterdam tanzt, zeigte mit Jakob Feyferlik bravourös diese drei kurzen, aber ungemein spannenden Pas de Deux.
Den mittleren Teil des Abends bestritt Neumeiers „from time to time“, das er vor kurzem im Rahmen des Ballettabends „Vier neue Temperamente“ für das Ballett am Rhein in Düsseldorf geschaffen hatte. Er hatte die Aufgabe bekommen, das Temperament der Melancholie in Tanz umzusetzen, und er tat das mit der Figur eines Mannes, der sich an verlorene Beziehungen in seinem Leben erinnert – Vater, Mutter, Partner. Es ist eine Rückschau auf das eigene Leben mit seinen Höhen und Tiefen, bei dem jede*r letztlich alleine zurückbleibt. Man kann da einiges wiederentdecken, was Neumeier schon in anderen Stücken verarbeitet hat: den Tisch, an dem die Familie auch in der „Glasmenagerie“ sitzt, ebenso die – allerdings völlig überflüssige – Video-Projektion, wie sie schon in „Anna Karenina“ (ebenfalls überflüssigerweise) eingebaut wurde. Die Mitglieder des Balletts am Rhein, allen voran Julio Morel, tanzten das Stück mit großer Hingabe.
Vor 110 Jahren zum ersten Mal aufgeführt wurde „L’après-midi d’un Faune“ von Vaslav Nijinsky, das erste Ballett, das „durchchoreographiert“ war, wie Neumeier erzählte, also ohne Pantomime oder erklärende Gesten auskam. Edvin Revazov, Anna Laudere und David Rodriguez zeigten hier jedoch Neumeiers eigene Fassung aus dem Jahr 1996. Einmal mehr stellte David Rodriguez hier unter Beweis, dass er zu Recht zum Solisten befördert wurde – er hat das gewisse Etwas, das man für diese Rolle braucht, eine lasziv- verführerische Erotik.
Wiederum 50 Jahre ist es her, dass Neumeier „Don Juan“ in Frankfurt/Main kreiert hat. Alina Cojocaru und Sasha Trusch zeigten den letzten Pas de Deux aus diesem Stück, bei dem der Todesengel den Frauenhelden ins Jenseits führt – allerdings nicht sofort, denn auch der Engel erliegt der Faszination dieses Mannes. Alina Cojacaru und Sasha Trusch zeichnen die feinen Stimmungen dieses zarten Miteinanders mit einer so delikaten Souveränität und Hingabe, dass es eine pure Freude ist.
150 Jahre ist es her, dass Friedrich Nietzsche sein „Also sprach Zarathustra“ geschrieben hat. Zarathustras Nachtwandlerlied „Oh Mensch, gib acht – was spricht die tiefe Mitternacht“ – verarbeitete Gustav Mahler im 4. Satz seiner Dritten Sinfonie. Neumeier hatte diesen Teil anlässlich des Todes von John Cranko 1973 mit dem Titel „Nacht“ für das Stuttgarter Ballett kreiert, bevor er 1975 die gesamte Dritte Sinfonie choreographierte, die zum Signaturstück des Hamburg Ballett wurde. Diesen 4. Satz zeigten jetzt Karen Azatyan, Jacopo Belussi und Xue Lin, die am Abend zur Ersten Solistin befördert wurde.
Aber was wäre eine Gala ohne großen klassischen Pas de Deux und was läge näher, als ihn mit genau der Ballerina zu zeigen, die für das klassische Ballett steht wie wenige andere? Und so brillierten Olga Smirnova und Jakob Feyferlik mit dem „Grans Pas Classique“ des vor 120 Jahren geborenen Victor Gsovsky – ein Augenschmaus der Extraklasse.
Zum Abschluss dann der 3. und 4. Satz aus Beethovens Siebter Sinfonie, die zu Neumeiers Ballettabend „Beethoven-Projekt II“ gehört. Die schwungvolle Musik mit der nicht minder temporeichen Choreographie sollte, so Neumeier, trotz aller Widrigkeiten einen optimistischen Blick in die Zukunft ermöglichen. Einmal mehr begeisterten hier Madoka Sugai und Sasha Trusch mit ihrer Virtuosität. Nathan Brock führte das Philharmonische Staatsorchester mit sicherer Hand durch den musikalisch vielfältigen Abend.
Dieser Blick in die Zukunft darf umso positiver sein, als das gesamte Ensemble des Hamburg Ballett in diesen Ballett-Tagen einmal mehr seine absolute Weltklasse unter Beweis gestellt hat. Man wird lange suchen müssen, um eine Kompanie von diesem hohen Niveau und von dieser Strahlkraft zu finden. Das zeigte sich augenfällig an jedem Abend dieser zwei Wochen, ganz besonders aber bei „Sylvia“ mit Madoka Sugai und Sasha Trusch als Sylvia und Aminta sowie Alessandro Frola in seinem Rollendebut als Endymion und dem ganzen Ensemble. Es ist und bleibt eines von Neumeiers schönsten Balletten. Zum besonderen Highlight wurde die zweite Besetzung von „The Winter’s Tale“, bei der die ganze Vielfalt und Dramatik des Stückes erst so richtig deutlich wurde. Edvin Revazov als König Leontes zeigte hier eine Kraft und Dynamik, wie man sie selten an ihm gesehen hat – ebenso Karen Azatyan als König Polixenes. Anna Laudere war eine anrührend-würdige Königin Hermione, Patricia Friza eine berührende Paulina, und Ricardo Urbina und Ana Torrequebrada sprühten vor Tanzeslust in ihrem Pas de Deux als Schäfer und Schäferin.
Neumeiers wichtigstes Jubiläum steht in der nächsten Spielzeit bevor, die dann gleichzeitig nach 50 Jahren seine letzte als Ballett-Intendant sein wird. Immer noch nicht hat Kultursenator Carsten Brosda entschieden, wer Neumeiers Nachfolge antreten wird – man darf da weiter gespannt sein. Wer immer es jedoch sein wird, er oder sie übernimmt eine einzigartige Kompanie in bestem Zustand.
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