Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Der Titel dieses Ballettabends in der Hamburger Kampnagelfabrik – „Where have all the flowers gone“ – kam nicht von ungefähr, denn das bekannte Antikriegs-Lied, das schon Marlene Dietrich gegen den Zweiten Weltkrieg und später Joan Baez gegen den Krieg in Vietnam so eindringlich sangen, zeigt wie kaum ein anderes den ewigen Kreislauf eines Krieges. Lautet die Antwort noch in der ersten Strophe „… Mädchen pflückten sie geschwind“, heißt es dann in der vorletzten: „… über Gräber weht der Wind …“. Genau das passiert heute in der Ukraine. Immer noch. Weshalb es eine schöne Geste war, dass nach den erfolgreichen ersten Vorstellungen unter dem Motto „For the air we breathe“ im April jetzt noch einmal ein gemeinsamer Ballettabend von Tänzer*innen des Ukrainischen Nationalballetts und des Hamburg Ballett zustandekam, initiiert von dem Ersten Solisten Edvin Revazov, geboren in Sevastopol auf der Krim, unterstützt vom Hamburger Ballett-Intendanten John Neumeier persönlich sowie von der Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper, deren Geschäftsführerin Ulrike Schmidt viele Jahre lang die Betriebsdirektorin der Kompanie war.
Und was sonst leider so selten, viel zu selten, zustande kommt, war hier relativ schnell organisiert: die Zusammenarbeit zwischen dem Hamburg Ballett und der Kampnagelfabrik. Für diesen Zweck wurde vergleichsweise kurzfristig sogar die größte Halle, die K6, freigegeben.
Drei jeweils 30- bis 35-minütige Stücke waren zu sehen. Zu Beginn „Quatro“ für zwei Paare von Edward Clug zu Musik von Milko Lazar, das Clug eigens für das Ukrainische Nationalballett geschaffen hatte. Es ist eine kontrastreiche, spannungsgeladene Kombination aus abgehackt-eckigen und dann wieder wunderbar fließenden Bewegungsmustern, mal aneinander vorbei, mal miteinander, mal nebeneinander her. Die vier Ukrainer*innen tanzen das mit großer Hingabe und Präzision.
Nach der ersten Pause dann „Requiem“, eine Gemeinschaftsproduktion der Beteiligten zu Musik des polnischen Komponisten Henryk Mikolaj Górecki (1933 – 2010), die mit ihrer sakralen Anmutung zu der getragenen Choreografie passt. Sechs Männer in schwarzen Anzügen und vier Frauen in graublauen Trikots und schwarzen Röcken tanzen hier ein Sterbe- und Seelenamt von besonderer Tiefgründigkeit. Immer wieder fallen die Männer, kullern willenlos an die Rampe, die Frauen suchen nach ihnen, richten sie auf, schieben sie auf dem Boden liegend weg – es ist unverkennbar, dass hier die Bilder verarbeitet werden, die aus dem Ukrainekrieg zu uns dringen, unterbrochen nur einmal durch einen Volkstanz-ähnlichen Abschnitt für die sechs Männer. Der gestaltet sich aber sowohl musikalisch wie tänzerisch aberwitzig rasant und damit maßlos überdreht – der absolute Kontrapunkt zu der Melancholie und dem Schmerz davor und danach.
Zum Schluss dann noch „Um Mitternacht“, eine Kreation von John Neumeier aus dem Jahr 2013 zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, an diesem Abend mit viel Gefühl und wunderbarer Intonation vorgetragen von Daniel Ochoa, begleitet von Christian Peix am Flügel. Da merkt man die Ausbildung im Liedgesang, die Ochoa sowohl bei Dietrich Fischer-Dieskau wie auch bei Thomas Quasthoff erfahren hat – selten hat man diese Lieder so eindringlich und kraftvoll wie zart zugleich gehört. Im Tanz brillieren Silvia Azzoni und Xue Lin vom Hamburg Ballett neben den wiederum großartigen ukrainischen Solist*innen.
Es sind Bilder von großer Eindringlichkeit, die dem Ensemble in allen drei Stücken gelingen. Sie spiegeln all die Trauer und den Kummer, die dieser Krieg mit sich bringt und noch viele Jahrzehnte nach sich ziehen wird, aber durchaus auch den Hauch Zuversicht und Hoffnung, den wir trotz aller Grausamkeiten und Greueltaten nie verlieren dürfen. Hervorzuheben ist hier auch, dass sich die ukrainischen mit den Hamburger Tänzer*innen so innig miteinander mischen, dass man keine Unterschiede mehr erkennen kann – weder technisch noch darstellerisch. Einmal mehr wird deutlich, wie viel Potential in den jungen Nachwuchschoreograf*innen steckt, wenn man ihnen nur den Raum dafür gibt. Es erscheint nach wie vor als Ding der Unmöglichkeit, dass die vom Hamburg Ballett regelmäßig aufgelegten Vorstellungen der „Jungen Choreografen“ in der winzigen Opera stabile stattfinden müssen anstatt in der K6 auf Kampnagel mit ihren unvergleichlich größeren Möglichkeiten. Vielleicht bahnt ja dieses Ukraine-Projekt jetzt endlich den Weg dafür.
Hinweis: Leider war es nicht möglich, diesen Abend mit mehr als den drei hier eingestellten Fotos im Bild zu zeigen – weder die Kampnagelfabrik noch das Hamburg Ballett haben Fotos davon zur Verfügung gestellt. Die hier gezeigten stammen aus dem ersten Abend, an dem „Requiem“ bereits einmal gezeigt wurde.
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