„Birds“ von Seppe Baeyens (Ultima Vez).

„Birds“ von Seppe Baeyens (Ultima Vez).

Temporäre Formationen

Das Tanzhaus NRW zeigt die Produktion „Birds“ von Seppe Baeyens (Ultima Vez) auf dem Düsseldorfer Bertha-von-Suttner-Platz

Unerwartet offenbart die partizipative Choreographie „Birds“ was passieren kann, wenn eine frisch geformte Gemeinschaft in einen bereits sozialisierten Raum eindringt.

Düsseldorf, 14/10/2022

Von Thaddäus Maria Jungmann

Das Stück beginnt vor dem Stück, beziehungsweise ergibt sich eine spontane Ouvertüre: Punkt 14 Uhr bahnt sich ein orangener Müllwagen seinen Weg bis ins Zentrum des Platzes. Die Tauben weichen tänzelnd dem Akteur aus, genaustens von allen Anwesenden beobachtet, ohne Ahnung, dass sie einige Minuten später selbst wie Vögel über das Pflaster fliegen werden. Während zwei Personen aussteigen, das Auto auf unbestimmte Zeit geparkt ist und die Sauberkeits-Choreografie immer mehr Raum einnimmt, diskutiert das künstlerische Leitungsteam, ob für die eigentliche Choreografie noch genügend Platz übrig ist.

Mit der Produktion „Birds“ begibt sich der Tänzer und Choreograf Seppe Baeyens (Ultima Vez) in den öffentlichen Raum, mit der Absicht, die ortsspezifisch üblichen Abläufe zu unterbrechen. Klingt sein Vorhaben zunächst radikal, folgt die Inszenierung vielmehr einem Prinzip aus Führen und Folgen mit dem Bewusstsein dem Ort seine Zugänglichkeit nicht zu berauben. Bereit zu folgen, schaut der anwesende Baeyens lächelnd dem Ereignis zu. Dagegen scheint für die Vertreter*innen des Tanzhaus NRW die komplette Erfahrung der eingeladenen Produktion in Gefahr. Der startende Motor wird zu einem theatralen Mittel, erst mit dem Wegfahren des Autos hebt sich symbolisch der Vorhang.

Dadurch verpufft zwar das Potential schleichend, einen alltäglichen zu einem dramatischen Ort zu organisieren, aber gerade die ungeplante Ouvertüre führt dazu, den Bahnhofsvorplatz auf seine Dramatik hin zu untersuchen: Die reflektierende Sonne in den Fensterscheiben wird zur atemberaubenden Lichtershow, ein sonst unbemerkter Kuss wirkt wie eine inszenierte Narration, jedem Gang durch die Mitte des Platzes wird eine hohe Bedeutung beigemessen. Schienen die Perfomer*innen bislang verborgen, setzt sich plötzlich die Bewegung von zwei Personen in Sommerkleidung offensichtlich von der Dynamik der Menschen in Übergangsjacken ab. Zielstrebig rennen sie zu Leuten, verweilen dort ungefragt und halten Ausschau nach weiteren. Ihre Wege vernetzen die einzelnen Menschen; machen die unbemerkte Verbindung zwischen ihnen sichtbar.

Bereits in seiner letzten Arbeit „Invited“ (2018) sucht Baeyens nach Alternativen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Mit der aktuellen Produktion bedient er sich, wie der Titel annehmen lässt, strukturellen Lebensformen aus der Natur. „Birds“ wird zu einer sozialen Choreografie, bei der die Beteiligten mit ausgebreiteten Armen vom einen ins nächste Bild gleiten. Aus spontanen Formationen ergeben sich temporäre Gemeinschaften. Wie vom Wind getragen bilden sich Bewegungsstrudel, welche flüchtige Beziehung untereinander herstellen. Daraus entwickelt sich ein spielerischer Tanz aus Begegnung, Entfernung und Wiederbegegnung. Mit den geöffneten Armen etabliert sich ein konsensuelles Kommunikationsprinzip, was gleichzeitig das gängige Verständnis von partizipativen Arbeiten zur Disposition stellt. Bevor in die nächste Formation gerast wird, gibt es die Möglichkeit der Reflektion. Die Teilhabe an der Gemeinschaft distanziert sich von Manipulation und spricht den Einzelnen ein Mitbestimmungsrecht zu.

Immer wieder gibt ein*e Performer*in einen Impuls für eine weitere Aktion, woraufhin die anderen sich, inspiriert von der Musik unterschiedlicher Kulturen, mal einen gemeinsamen Rhythmus finden, mal zusammen die Grenzen des neuen Rahmens austesten oder einfach allein tanzen. Angelockt von der Ausgelassenheit steigen immer mehr Passant*innen mit ein, sodass sich das Geschehen kontinuierlich zu einer intergenerationalen und interkulturellen Party entwickelt. Gerade am Höhepunkt der Gemeinschaft, die sich vor Hierarchien sicher wähnte, entpuppt sich das Ereignis als Utopie. Eine Person, die inmitten des Bertha-von-Suttner-Platzes wohnt, beschwert sich über die Musikauswahl. Zeitgleich ist ein lauter Knall zu hören und kleine Fallschirme fliegen vom Himmel. Zu einem Mikroorganismus mit eigenen Regeln und Werten entwickelt, hat die Gemeinschaft in der Ekstase ohne zu Fragen einen bereits sozialisierten Ort eingenommen und sich von seinem Umfeld abgekapselt. Der Wunsch nach dem Musikwechsel wird ignoriert, die Fallschirme nicht.

Neben der zwischenmenschlichen Stärkung einer Gruppe gelingt es „Birds“ daran zu erinnern, die Grenzen einer Gemeinschaft transparent zu gestalten; Informationen von außen – in diesem Fall die Fallschirme - in den Mikroorganismus zu integrieren und den Blick für den Makrokosmos nicht zu verlieren: Arme offenhalten.

 

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