Vor der Seide sind alle gleich
Neuer Heidelberger Tanzabend „Silk“ von Ivan Pérez
von Nora Abdel Rahman
Mitten in die Ruine des Dicken Turms vom Heidelberger Schloss scheint die untergehende Sonne. Sie taucht den Neckartäler Sandstein in ein gleißendes Licht. Während der Blick nach oben in den Himmel wandert, wo die Wolken nach ihren eigenen Gesetzen spielen. Im Zentrum des versprengten Turms steht ein Podest, dass an seinem Ende mit der Linie des fernen Horizonts abzuschließen scheint. Aber das ist nur ein Trugbild des Blicks und seiner Achse, eine phantastische Perspektive im Moment der untergehenden Sonne. Unterhalb der Linie liegt die Stadt am Fluss, umgeben von baumbewachsenen Hügeln. Doch auf dem Podest liegt ein schwarzer Steinschotter, aus unzähligen scharfkantigen Splittern. Er zwingt die Perspektive auf den Boden der Tatsachen. Denn auf der Linie des Horizonts erscheinen Gesichter, wie einer unergründlichen Tiefe entstiegen. Sie werden zu Gestalten – Männer in Hosen und Frauen in Röcken –, die jetzt den begrenzten unwirtlichen Raum bevölkern.
So lässt sich das Setting von „Warten auf die Barbaren“ beschreiben. Iván Pérez hatte das Stück 2016 zusammen mit dem Regisseur Michiel de Regt entwickelt. In den Niederlanden wurde es im Theater Toneelschuur in Haarlem und im Korzo Theater in Den Haag gespielt. Für die Heidelberger Schlossfestspiele und den Dicken Turm hat der Choreograf Pérez das Stück mit seiner Kompanie und zwei Schauspielern vom Theater und Orchester Heidelberg neu inszeniert. Coetzees Roman, der 1980 im Original erschien und die politischen Verhältnisse Südafrikas fiktionalisiert, ist 2022 – genau 42 Jahre später – kaum an Aktualität zu überbieten. „Warten auf die Barbaren“ trifft ins Schwarze der Zeitgeschichte und lässt sich für Europäer*innen nicht ohne den russischen Überfall auf die Ukraine lesen. So gesehen hat Pérez, der in all seinen Stücken ein überaus feines Gespür für gesellschaftliche Prozesse und Verhältnisse zeigt, seinen bereits erarbeiteten Stoff im richtigen Moment neu aufgelegt. Und welcher Schauplatz könnte besser sein als die Ruine vom Dicken Turm, die an ihrer Bruchkante die gewaltsam kriegerischen Aktivitäten der Geschichte zeigt?
Dazu passt der schwarze Splitter auf dem Bühnenpodest, der wie ein Ascheregen von Verwüstung kündet. Auf ihm bewegen sich drei Tänzerinnen und drei Tänzer barfüßig, während eine weitere Gestalt in schwarzen Schuhen über den Boden schlurft. Sie packt eine Tänzerin harsch an der Schulter und verweist sie auf ihren Platz. Im nächsten Moment spricht sie: „Das sind Fischer. Was wollen die von einem großen Barbarenaufstand gegen das Reich wissen?“ Pérez setzt seinen Tanzfiguren eine Schauspielerfigur gegenüber. Sie ist Erzähler und Hauptfigur des Romans von Coetzee – jener Figur des Magistrats, der als hoher Staatsbeamter loyal seinem Land dient und im benachbarten fremden Volk keine Bedrohung sieht. Bis ihn die Gräueltaten des Militärs, die dem Nomadenvolk barbarische Kriegsabsichten unterstellen, zum eigenverantwortlichen Handeln bewegen. Pérez setzt damit eine zentrale Perspektive, verschiebt sie aber immer wieder geschickt, in dem keine Figur als nur gut oder als nur schlecht wahrgenommen werden kann. Alle Figuren haben im Stück einmal sowohl die Täterseite, als auch die Seite der Opfer eingenommen. Das öffnet den Raum für den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge, aus dem die Erzählung ihren Motor für die Handlungen ihrer Figuren gewinnt. „Wie können Sie jemals wissen, dass ein Mensch ihnen die Wahrheit sagt?“, fragt der Erzähler, den Jonah Moritz Quast mit all der ganzen Bandbreite von Unsicherheit bis Revolte der Coetzeeschen Figur spielt. Dagegen setzen die Tänzer*innen grandiose Körperbilder, die bald extrem zerbrechlich, bald gewaltig auflehnend wirken. Am Ende bilden ihre Körper ein Knäuel aus gefallenen Leibern, während sich der Himmel über dem Turm verdunkelt hat.
„Warten auf die Barbaren“ von Iván Pérez in zwei verschiedenen Besetzungen noch bis Ende Juli 2022 auf den Heidelberger Schlossfestspielen im Dicken Turm.
www.theaterheidelberg.de
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