Vor der Seide sind alle gleich
Neuer Heidelberger Tanzabend „Silk“ von Ivan Pérez
Zum neuen Tanzabend „The Reality and the Cosmos“ von Iván Pérez in Heidelberg
Die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Heidelberg bekommen ordentlich was zu tun: Sie sind nicht nur auf der Bühne platziert, sondern auch in das Bühnengeschehen integriert. Vor einer dunkel glänzenden, geheimnisvollen Rückwand ertasten die Mitwirkenden – Tänzer*innen und Musiker*innen gemeinsam – den Bühnenraum. Die Rückwand wird später zur Projektionsfläche für den Sternenhimmel, ein fahrbares Teleskop macht’s möglich (Bühne: Yoko Seyama). Nach vorne ist die Bühne von tiefhängenden Beleuchtungstraversen begrenzt. Hier tasten, schwanken, schlängeln sich über 20 Mitwirkende in Zeitlupentempo vorwärts. Der Klang melancholisch (c-moll Prélude aus der Cellosuite Nr. 5 von Bach), die Bühne düster (Lichtdesign: Ralf Schanz), die Mitwirkenden schwarz umhüllt mit skulptural geschnitten Oberteilen (Kostüme: Sofie Durnez): Dieser Kosmos ist fremd und bedrohlich.
Im Bühnenhintergrund schwebt ein Flügel herab, während die Traversen nach oben gleiten, die Musiker*innen ihre Plätze finden und die Tänzer*innen Farbe in ihre Kleidung und ins Leben bringen. Musikalisch unterstützt werden sie dabei von einem frühen Klassiker der Minimal-Music („In C“ von Terry Riley). Zu pulsierenden Achtelnoten am Piano wiederholen die Mitglieder des Orchesters eigenständig vorgegebene musikalische Phrasen. Für ein Zusammenwirken dieser musikalischen Parts ist eine hohe Eigenverantwortung der Musiker*innen gefragt, aber auch ein sensibles Aufeinander-Hören. Im Tanz geht es nach solistischer Selbstdarstellung ebenfalls um die Erprobung des Zusammenspiels, erst in kleinen Gruppen, dann mit der gesamten zwölfköpfigen Heidelberger Tanzcompany. Die Frage ist: Wie gelingt Gemeinsamkeit, ohne dass eine festgelegte Hierarchie den Spielraum jedes Einzelnen beschränkt? Die Lösung lässt sich nur spielerisch finden: Immer wieder zieht ein Mitglied der Gruppe die Aufmerksamkeit auf sich und wird für kurze Zeit zum Bewegungs-Anführer, dem oder der die Übrigen freiwillig folgen.
Die Übermacht des Kosmos greift ein in musikalischer Gestalt des Eröffnungsmotivs der Schicksalssymphonie Nr. 5 von Beethoven, effektvoll gespielt von einem siebenköpfigen Blechbläser-Ensemble. Die Wucht der Komposition fährt den Tänzer*innen ordentlich in die Körper. Mit aufwendigen Sprüngen kämpfen sie bis zur Atemlosigkeit gegen die Schwerkraft an – und verdienen sich einen Sonderapplaus des Publikums.
Den Ton für einen neuen Frieden gibt zuletzt der estnische Komponist Lepo Sumera an. Ursprünglich für seine Frau, eine Konzertpianistin, schuf er das Werk „Piece oft he Year 1981“, dessen intimer Klangraum durch konstante kleine Veränderungen von Melodie und Rhythmus variiert wird. In dieser Atmosphäre – und mit dem neuen Wissen über die Einzigartigkeit menschlicher Existenz im All – lassen die Tänzer*innen individuelle Begegnungen auf neuem Niveau zu. Erstmals sind jetzt direkte Berührungen möglich, mit hoher Rücksichtnahme oder, wenn der Begriff nicht so überstrapaziert wäre, sichtbarer Achtsamkeit.
Nach einer guten Stunde sind die Tänzer*innen im harmonischen Hier und Jetzt angekommen, ganz und gar unbeirrt durch eine Welt, in der die Menschheit sich der Verantwortung für ihre Sonderstellung im Kosmos weniger denn je bewusst zu sein scheint. Das Plädoyer für eine Reality, die aus dem Blickwinkel von Iván Pérez konsequent durch eine empfindsame Innensicht definiert wird, wurde vom Premierenpublikum mit freundlichem Beifall quittiert.
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