„Charlie“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Nürnberg: Ensemble

„Charlie“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg: Ensemble

Charlies (Alp)Traum

Fulminanter Start des Staatstheaters Augsburg in die Ballettsaison – mit der Chaplin-Hommage „Charlie“

Spartenleiter Ricardo Fernando erschafft mit „Charlie“ einen melancholisch-poetischen Chaplin-Abend und lässt den alten Filmregisseur auf den jungen Tramp treffen. Mit Bällen und Boxhandschuhen.

Augsburg, 06/10/2023

Betörend schön – so startet das Ballett des Staatstheaters Augsburg in seine neue Spielzeit. Beste Vorzeichen für den Tanz in der Brecht-Metropole – zumal im (vermeintlich krisenhaften) „verflixten siebten Jahr“ unter der Leitung von Ricardo F   ernando. Mittlerweile spielt die personell bestens disponierte Truppe in der Liga der bayerischen Staatstheater. Regelmäßig mischen die 18 Mitglieder auch in Operninszenierungen kräftig und zu deren deutlichem Vorteil mit.

Das in Sanierung befindliche Stammhaus hat Fernando bislang allerhöchstens von innen völlig leergeräumt erlebt. Dafür hat er aber im Verbund mit dem Kollegen-Kollektiv der Techniker und Gewerke längst den Dreh raus, wie sich die Bühne der Ausweichspielstätte im Martini-Park trotz ihrer schwierigen Raumbedingungen sinnlich effektvoll und themengerecht ausstatten lässt. Am Ende von „Charlie“ seiner hinreißenden Hommage an den genialen Künstler Charles Chaplin, der viel mehr als bloß ein Slapstick-Erfinder war, wird sie gar geflutet – nicht mit Wasser, sondern mittels zweieinhalbtausend kleiner, mittlerer und fußballgroßer Bälle in gebrochenem Weiß bis Grauschwarz: Farben, die an Chaplins legendäre Stummfilme erinnern.

Vom hineinpreschenden Ensemble werden sie in alle Richtungen versprengt. Einen jedoch hebt Cosmo Sancilio in der Titelrolle auf und balanciert ihn verhalten-nachdenklich auf erhobenen Händen. Er meistert dies jungen Chaplin leichtfüßig, mimisch und gestisch dermaßen vorbildgetreu, dass man die unsterbliche Figur des Tramp leibhaftig herumtänzeln vermeint. Sancilios Spiel mit dem Ball ist allerdings eine choreografisch wohl bewusst eher reduzierte Variation auf Chaplins berühmte Nummer mit dem riesigen, federleichten Weltkugelballon aus „Der große Diktator“. Die humanistisch bewegende und pazifistische Schlussrede dieses Films erklingt im Originalton mit Chaplins Stimme aus dem Off wie im Jahr 1940.

Da – und glücklicherweise nur hier – gleicht Ricardo Fernando seiner Würzburger Kollegin Dominique Dumais, die seit 2023 ihren abstrahierten „Chaplin!“ zeigt. Aktuell sind mit Ben Van Cauwenbergh und Armen Hakobyans „Smile“ in Essen und Mario Schröders „Chaplin“ aktuell gleich vier Chaplin-Tanzproduktionen in Deutschland zu sehen.

Ricardo Fernando erlebt man in 80 Minuten „Charlie“ als temporeiches Tanzstück aus einem Guss. Es gibt Anklänge an das Genre der Revue. Doch das, was Fernandos Crew immer wieder in Reih' und Glied oder in ausgefeilten Formationen – geometrisch einmal mit Spazierstöcken, die im heruntergedimmten Schummer neonröhrenhell leuchten – darbietet, lässt sich auch als Scherben eines Spiegels bzw. Erinnerungsfetzen deuten. Szene für Szene zusammengefügt und mit gut zu entschlüsselnden Zitaten neu verbunden, ergibt sich daraus ein wunderbar lose geknüpftes Handlungsballett.

Fernandos Ausgangspunkt ist ein Traum. Darin kehrt der ergraute Charlie Chaplin, dem die USA 1952 die Wiedereinreise verweigerten, noch einmal in eines der Filmstudios von Hollywood zurück und lässt berühmte Persönlichkeiten oder Momente aus seinen Filmen auferstehen. An diesem magischen Ort – rund um eine mobile Holzwand mit Treppe – begegnet der alte Chaplin (Nikolaos Doede) seinem jüngeren Ich alias seiner Kunstfigur, dem Tramp. Plötzlich sitzt das blinde Blumenmädchen (Martina Piacentino) aus „Lichter der Großstadt“ auf einer hölzernen Bank. Der alte Filmemacher-Chaplin schubst seinen jungen Tramp zu ihr hin. Aus dem schüchternen Paar wird schnell ein Trio. Die Story, ihre Figuren und ihr Erfinder verschmelzen bei Fernando immer mal wieder zu einem hübschen, klassisch fundierten Stück Tanz.

Mehrfach rennen sich die beiden Chaplin-Interpreten Hand in Hand in einen Zustand hochjauchzenden Glücks – in einen das Publikum schier mitreißenden Gefühlsrausch, der danach genauso schnell ins Gegenteil kippt wie man das von Chaplin als Darsteller und seinen Geschichten so gut kennt. Entsprechend konsequent sticht als Gipfel an Komik im Verlauf des Abends eine Szene ganz besonders heraus: der Boxkampf, mit dem der Choreograf an eine Filmsequenz aus „Lichter der Großstadt“ erinnert. Cosmo Sancilio als wendiger Chaplin, Alfonso Pereira in der Rolle des Boxers und als Schiedsrichter dazwischen der Tänzer David Nigro, dem Fernando darüber hinaus das gelungene Sounddesign seiner Produktion anvertraut hat, sind zum Totlachen witzig.

Einem Alptraum gleich wurden dagegen Chaplins Ängste angesichts des sich mehr und mehr durchsetzenden Tonfilms inszeniert. Die Bedrohung zeigt sich in Form einer fahrbaren Wand übereinander gestapelter Bildschirmkästen. Dazu erscheint Gabriela Finardi als maskulin auftretende Frau mit Hut und teuflisch roten Strümpfen. Sie bedrängt Chaplin, der von Mutlosigkeit und Zweifeln geplagt geht der Künstler zu Boden. Sein jüngeres Alter Ego bezwingt aber – ganz im Stil des unverbesserlichen Tramps – die Furcht und findet nach einer Kletterpartie über einen überdimensional großen Regiestuhl, der sich auf Chaplins Flucht vor einer Horde düsterer maskierter Dämonen in ein Kamerastativ verwandelt, zu seinem unverbesserlichen Lächeln zurück.

In seinem Eröffnungssolo tanzt Nikolaos Doede durch die Weite eines leeren Raums. Ab und zu treten einige ihrer Bewohner durch den Vorhang und finden sich im Kosmos ihrer erträumten Entstehung wieder. So motiviert Fernando den Auftritt des jungen Chaplin im Kostüm des Tramps. Gemeinsam auf einem Sofa zusammengedrängt taucht aus der rückwärtigen Tiefe zudem Chaplins Familie auf.

Die knallbunten Kostüme der Mutter (Terra Kell), der drei Mädchen (Ria Girard, Chiara Zincone, Martina Maria Gheza) und zwei Jungs (Gonalo Martins da Silva, Vito Damiano Volpicella) brechen mit der ansonsten vornehmlich schwarz-weiß gehaltenen Anmutung des Stücks. Doch „Charlie“ verharrt nicht lange beim Bild des Familienvaters. Von Traurigkeit geleitet tritt der Darsteller des alten Chaplin zu Wagners „Lohengrin“-Vorspiel durch den Vorhang nach hinten ab. Zurück bleibt der junge. Um ihn herum erobern Paare mit wendigen Hebungen den Raum.

Nacheinander streifen alle Tänzerinnen und Tänzer ihre zweite, ihnen vom Ausstatter Pascal Seibicke genial angepasste, durchsichtige und an der Hüfte typisch für die Figur des Tramp ausgebeulte Kostümhaut ab. Cosmo Sancilio – Fernandos toller, von der Maske perfekt auf Chaplins junges Ebenbild getrimmter Tänzer – spielt versonnen mit einem der am Boden verstreuten Bälle. Der Traum, den Fernando Chaplin in seinem Ballett angedichtet hat, ist vorbei. Man schluckt ergriffen, denn tatsächlich ist hier etwas Erstaunliches gelungen: die Idee dessen zu visualisieren, was Chaplin uns hinterlassen hat und was ihn bis heute ausmacht.

Niemand, der Chaplin auf die Bühne bringt, mag an dessen Filmmusik oder dem watschelnden Charme und der ambivalenten Strahlkraft seines heruntergekommen Tramp vorbeikommen. In Augsburg wird der tänzerische Reigen letztlich durch eine leise vor sich hinsummende Spieldose beendet. Die Gestalt des Tramps dreht sich obenauf. Kitsch? Vielleicht – aber auch ein voller künstlerischer Treffer ins Schwarze!

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