„Die andere Seite“ von Constantin Hochkeppel & Ensemble

Panta rhei

„Die andere Seite“ von Constantin Hochkeppel & Ensemble am Stadttheater Gießen

Zwischen Wachen und Träumen: Alles ist im Fluss.

Gießen, 10/12/2023

Die zweite Spielzeit am Stadttheater Gießen unter der neuen Leitung von Simone Sterr ist erfolgreich gestartet. Die „Tanz x Physical Theatre“-Sparte unter Leitung von Constantin Hochkeppel hat bereits mit einem Gastspiel der KimchiBrot-Connection aus Köln und einer Gastchoreografie von Ursina Tossi begonnen, nun war die erste Premiere im Großen Haus zu erleben. „Die andere Seite“ handelt von der Bedeutung des Schlafens und Träumens.

In der Vorbereitung hat Constantin Hochkeppel eine Nacht im Schlaflabor der Universität Marburg verbracht, mit dem dortigen Leiter gesprochen. Er hat den Anamnesebogen mitgebracht, der eingesprochen aus den Lautsprechern tönt und auf ansprechende Weise in einem Tanz mit Kissen umgesetzt wird. 

Das Stück wurde gemeinsam entwickelt, die Idee eines Schlaflabors war naheliegend. Dafür hat Johann Brigitte Schima ein dominantes Bühnenbild geschaffen. Zwei deckenhohe Wände, die in V-Form aufeinander zulaufen, zeigen auf einer Seite das Schlaflabor mit vielen Türen, auf der anderen Seite spielerische Elemente wie eine Kletterwand. Der Gang dazwischen markiert die Welt des Übergangs vom Traum zum Wachen, der mal im hektischen Rennen, mal im somnambulen Schwanken passiert wird. Das Ganze ist auf die Drehbühne des Theaters montiert und zeigt die deutlich abwechselnden Szenen an.

Konzept der Leistungsoptimierung

Entgegen dem Marburger Vorbild, das Menschen mit Schlafstörungen helfen will, haben die Kreativen in Gießen daraus ein Institut gemacht, das auf Leistungsoptimierung aus ist. Werbeblöcke inklusive. Die Schlafzeit soll verkürzt, das Träumen abgeschafft werden, um mehr Zeit zu gewinnen. Es ist eine Erzählung entstanden, mit längeren Textpassagen auf Deutsch, die auf Englisch auf den Übersetzungsbildschirmen erscheinen. Bei kurzen Texten von den Tanzenden, die in verschiedenen Sprachen reden, ist die Übersetzung auf Deutsch und Englisch, was die kleinen Bildschirme überfordert.

Ein unterschwelliges Brummen steigert sich bei Beginn des Bühnengeschehens, wird laut, wild und chaotisch. Da ist ein großes verzweifeltes Rennen, gefolgt von akustischer Reizüberflutung einer Großstadt und ebenso hektisch wie sinnlos agierenden Personen. Dann die Szenerie des abgeschotteten Schlaf-Retreats, das wie eine Idylle der Ruhe erscheint. Nur die Putzfrau (Maja Mirek) zieht ihre gleichmäßig ruhigen Bahnen mit dem Bodenwischer, den sie später ebenso als Tanzpartner wie als Abwehrwaffe nutzt.

Die Ruhe endet mit dem Auftritt der Ärztin (Dascha Ivanova), die mit ihrem enganliegenden weißen Kostüm und roten, hochfrisierten Haaren eine auffällig andere Figur ist im Vergleich zum restlichen Ensemble. Sie gibt Kommandos, stellt Diagnosen, hält wissenschaftliche Vorträge und erläutert ihre Vision vom Abschaffen des Träumens. Das provoziert Widerstand. 

Staunenswert ist ihre körperliche Fitness, da sie scheinbar mühelos spricht, agiert und tanzt, oft gleichzeitig. Sie ist eine von drei Mitgliedern des Schauspielensembles, die bei dem Stück mitmachen, dafür auch an allen Tanzproben teilnahmen. Auch David Gaviria und Nina Plagens tanzen ganz selbstverständlich mit, haben sogar Duo-Auftritte mit Tänzern.

Notwendigkeit des Schlafs

Das Zwischenreich gehört einer schlangenähnlichen Kreatur (Rose Marie Lindstrøm), der Hüterin des Traums. Sie leitet die Menschen behutsam an, sorgt am Ende auch energisch für Ordnung und überzeugt die Ärztin von der Notwendigkeit des Schlafes. Das Runterfahren des Bühnenbodens und wieder Hochkommen an anderer Stelle wird hier sinnfällig genutzt. 

Der Sound (Marco Mlynek) ist oft rhythmisch treibend, integriert Alltagsgeräusche und kurze Einspielungen bekannter Songs wie „Mr. Sandman“ und „Dream a little Dream“. Der voll ausgespielte Song, der am Ende das Wiederherstellen des Wach-Traum-Rhythmus‘ begleitet, ist eigens für Lindstrøm geschrieben und von ihr eingesungen. Er hat Ohrwurmpotential. 

Das Bühnengeschehen insgesamt verläuft oft an mehreren Stellen gleichzeitig, so dass man nicht sicher sein kann, ob man alles mitbekommt. Tänzerisch angelegte Parts gibt es in Gruppe, vereinzelte Soli (Magdalena Stoyanova) und teils sehr poetischen Duetten. Da drängt sich die antike Formel des Panta rhei auf, alles ist im fließenden Übergang. Das mehrheitlich junge Publikum feierte das Ensemble mit Klatschen, Pfeifen und Rufen.

 

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