„2 Chapters Love“ von Sharon Eyal

Aneinander vorbei geliebt

Mit „Stars Like Moths“ von Sol León und Sharon Eyals „2 Chapters Love“, das dem Abend auch den Titel verleiht, zeigt das Staatsballett Berlin zwei starke Uraufführungen.

Hut ab vor der künstlerischen Entscheidung, diese zwei sehr gegensätzlichen Arbeiten an einem Abend zu vereinen, aber auch vor der künstlerischen Wandlungsfähigkeit des Ensembles.

Berlin, 11/12/2023

Noch während der Zuschauerraum hell erleuchtet ist, tritt Polina Semionova von links auf die Vorderbühne auf – der Orchestergraben ist hochgefahren. Sie wirkt wie eine Suchende – barfuß, mit hochgeschlossenem Jackett und schwarzen Hotpants. Dort, wo üblicherweise der Dirigent steht, setzt sie sich mit dem Rücken zum Publikum auf die Brüstung zum Orchestergraben. Das Publikum ist mittlerweile leise geworden und lauscht der obligatorischen Handy-Ansage. Danach wird der Orchestergraben weiter hochgefahren, Semionova geht zwei Stufen hoch und setzt sich nun dem Publikum zugewandt auf die oberste. Dort stehen auch schwarze Stilettos, die sie anzieht und sich somit zur verführerischen femme fatale wandelt. Zu „Don‘t Cry Baby“ von Etta James beginnt sie sich zu bewegen, scheint den Songtext in Zeichensprache zu übersetzen oder einen eigenen Subtext dazu zu performen. Aus der Versenkung fährt Matthew Knight hoch, füttert Semionova und sich selbst mit Melonenstücken. Doch trotz dieser intimen Geste entsteht zwischen den beiden keine Verbindung. Soll aber – wie man im Verlauf merkt – gar nicht entstehen. Sol León zeigt in „Stars like Moths“ in unzähligen raffinierten Begegnungen die Unmöglichkeit, wirklich eins zu werden. 

Aus der Ruhe geraten

In unterschiedlichen Konstellationen begegnen sich die Tänzer*innen, kommen aus der Versenkung oder verschwinden plötzlich in ebendieser wieder. Ganz nah ist das Publikum – zumindest in den vorderen Reihen – am Geschehen, das auf dem hochgefahrenen Orchestergraben stattfindet. Auf den schwarzen Vorhang zur Hauptbühne wird ein Baum gezeichnet (Animation, Illustration und Schnitt von Ennya Larmit nach dem Konzept von León). Aus den Blättern entstehen Menschen, man sieht Junge wie Alte, Tänzer*innen und Aufnahmen, die an Urlaubsvideos erinnern. 

Als der Vorhang hochgeht, gibt er einen Ballettsaal preis. Doch auch der ist aus der Ruhe geraten: Eine Wand hängt vom Schnürboden, die andere stimmt perspektivisch nicht und ist halb in den Boden versunken. Sol León sind ohne ihren langjährigen choreografischen Weggefährten Paul Lightfoot – der allerdings gemeinsam mit ihr das Bühnenbild gestaltet hat – poetische Bilder gelungen. Ihre Bewegungssprache ist sehr fließend, immer wieder strecken und dehnen sich die Tänzer*innen scheinbar ins Unendliche. Wenn sie miteinander tanzen, gelingt die Annäherung nicht wirklich, vielmehr scheinen sie alle Einzelkämpfer*innen zu bleiben. Wenn sie miteinander auf der Bühne sprechen, scheinen sie teilweise aneinander vorbeizureden – was sie sprechen, ist allerdings nur leise hörbar. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so wichtig. 

Auseinanderbrechendes Geschehen

Musikalisch hat sich León für eine Mischung aus Jazz, alter und neuer Musik entschieden. Diese Auswahl unterstreicht noch einmal das immer wieder gewollt auseinanderbrechende Geschehen auf der Bühne. Ebenso verantwortet sie die Kostüme, die in den Farben schwarz, weiß und grau gehalten sind. 

Nicht jedes Bild erschließt sich vollends, so zum Beispiel wenn Semionova stoisch am Bühnenrand sitzend von einem Tänzer mit Mehl überschüttet wird – ein poetischer Moment ist es allemal. Und ist auch die Liebe nicht immer vollends erklärbar? Zum Schluss verweigert Semionova die intime Melonenfütterung – auch diese Beziehung funktioniert nicht. Nach gut vierzig Minuten viel Applaus für diese gelungene Uraufführung, die erste und hoffentlich nicht letzte Kreation von Sol León für das Staatsballett Berlin.

Sanfter Beginn

Mit der Uraufführung von „2 Chapters Love“ arbeitet Sharon Eyal das mittlerweile dritte Mal mit dem Ensemble zusammen. Fast sanft beginnt der 30-Minüter mit einem Solo von Danielle Muir im Halbdunkel. Die Komposition von Ori Lichtik hat hier noch symphonische Momente, bevor sie sich zu harten Technobeats verändert. Erst nach und nach kommen die 26 Tänzer*innen auf die Bühne. Gekleidet in hautfarbene Ganzkörpertrikots und passende Socken (Kostüme von Sharon Eyal), mit Kopfschmuck aus Strass und Federn wirken sie androgyn und in den exakt ausgeführten synchronen Sequenzen teilweise auch bedrohlich, wenn sie über die Bühne marschieren. Hier spürt man den fast militärisch anmutenden Drill, wie ihn das Klassische Ballett mit sich bringt. 

Viel hohe halbe Spitze ist zu sehen – Eyals Markenzeichen. Doch die Armbewegungen wirken klassischer als in früheren Arbeiten, wie Versatzstücke der trauernden Schwäne, Wilis und Schatten aus „La Bayadere“. Alle ein Zeichen für unglückliche Liebe. Da nützt es auch nichts, dass manche Tänzer*innen einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken tragen, denn die (Liebes-)Pfeile kommen nie zum Einsatz. Immer wieder brechen Tänzer*innen aus der Masse aus, doch werden sie bald wieder von ihr verschlungen. Ganz so, als wenn Individualität nicht gerne gesehen ist. So sind selbst die Bewegungen beim Schlussapplaus noch durchchoreografiert. Auch das eine Referenz an das Klassische Ballett, das definitiv eine wichtige Grundlage für diesen Abend bildet, obwohl mit den strengen Regeln immer wieder gebrochen wird. Zu Recht standing ovations für die herausragenden Tänzer*innen und das künstlerische Team.

Hut ab vor der künstlerischen Entscheidung, diese zwei sehr gegensätzlichen Arbeiten an einem Abend zu vereinen, aber auch vor der künstlerischen Wandlungsfähigkeit des Ensembles. Wer sich auf beide Stücke einlässt, ist zwar am Ende nicht unbedingt schlauer, was die Liebe angeht, aber hat einen beglückenden Abend erlebt. 

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