Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Dass dies keine normale Gala sein würde (aber welche der nunmehr 48 Nijinsky-Galas in Hamburg war je normal?), stand von vornherein fest, bildete sie doch den Abschluss eines vierwöchigen Ballett-Marathons anlässlich des Jubiläums „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“. Und normalerweise hätte sie auch diese Ära in Hamburg beendet, wenn… ja, wenn Neumeiers Nachfolger Demis Volpi nicht noch in Düsseldorf gebunden gewesen wäre. So haben die Hamburger noch eine Epilog-Saison vor sich, der endgültige Abschied verzögert sich um ein Jahr.
Der Abend war dennoch von einer tiefen Wehmut gezeichnet – sowohl in der Auswahl der Stücke wie auch in der Stimmung auf der Bühne und im Publikum. Den ersten Teil der Gala hatte John Neumeier mit „Vergessene Tänze“ überschrieben, und so gab es Kostproben aus einigen seiner nunmehr 170 Werke zu sehen, die schon seit vielen Jahren nicht mehr gezeigt worden waren. Im Mittelpunkt ein Pas de Deux aus „Fenster zu Mozart“ von 1991 über die glücklich-unglückliche Liebe des 21-jährigen Wolfgang Amadeus zu seiner Gesangsschülerin Aloysia Weber. Wie Madoka Sugai und Sasha Trusch diese Stimmungen in der delikaten Choreografie aufs Feinste herausarbeiteten, war ein Genuss der Sonderklasse. Des weiteren gab es Ausschnitte aus „Orphée et Eurydice“ aus dem Jahr 2017, kürzlich bei den Salzburger Festspielen auf Einladung von Cecilia Bartoli präsentiert, „Songfest“ zu Musik von Leonard Bernstein von 1979, „Bartók-Bilder“ (1998) sowie „Die Unsichtbaren“ aus dem vergangenen Jahr (eine Kreation für das Bundesjugendballett über die vergessenen Tanz-Künstler der Nazizeit) – alles Stücke, in denen Schwermut und Trauer eine große Rolle spielen.
Etwas flotter und heiterer dann die „Neue Pizzicato-Polka“ von Johann Strauß, auf die Neumeier 2006 einen schwungvollen Pas de Trois für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker choreografiert hatte. Hier brillierte vor allem Alessandro Frola, der nach der Gala zum Ersten Solisten ernannt wurde – völlig zu Recht.
Vor der Pause dann noch „Spring and Fall“, eine Kreation von 1994, an diesem Abend gezeigt von 19 Tänzer*innen aus der Ukraine, die das Werk zusammen mit den aus der Ukraine stammenden Alexandre Riabko und Kostja Tselikov vom Hamburg Ballett einstudiert hatten. „Ein Künstler steht nicht außerhalb der Gegenwart, er spiegelt auch die furchtbaren Dinge“, begründete Neumeier in seinen einleitenden Worten diese Wahl – und das Philharmonische Staatsorchester intonierte den Gästen zu Ehren die ukrainische Nationalhymne.
Das Herzstück der Gala jedoch war der mittlere Teil, der Balletten zu Klaviermusik gewidmet war, die Michal Bialk am Flügel wunderbar sensibel gestaltete. Hervorzuheben sind hier vor allem vier Stücke: Da ist zum einen ein Auszug aus „Dämmern“ zu Préludes und Études von Alexander Skrjabin, ein Stück, das seit Jahrzehnten nicht mehr zu sehen war. Neumeier hatte es 1972 noch in Frankfurt kreiert und für seine erste Spielzeit in Hamburg mitgebracht. Es sind höchst delikate und feine choreografische Kostbarkeiten, mal nachdenklich, mal melancholisch, mal keck – sehr fein interpretiert von Yaiza Coll (die das Ensemble leider verlässt), Charlotte Larzelere (frisch zur Solistin befördert), Yun-Su Park, Emilie Mazón, Mathias Oberlin (der als Erster Solist in die nächste Spielzeit geht) und Lizhong Wang.
Höchst delikat präsentiert auch das imaginäre Portrait von Marilyn Miller, der „Pawlowa des Broadway“, zu Musik von George Gershwin, das 1986 Teil von Neumeiers „Shall We Dance“ war. Ana Torrequebrada, Charlotte Larzelere, Olivia Betteridge (die alle drei zu Solistinnen avancierten) sowie Patricia Friza (die ihre aktive Bühnenlaufbahn an diesem Abend leider, leider beendete), Madoka Sugai, Hayley Page und Greta Jörgens zeichneten die verschiedenen Charakterfacetten mit besonderer Delikatesse und Bravour.
Nicht minder eindrücklich danach ein Pas de Deux aus „Parzifal – Episoden und Echo“ aus dem Jahr 2006. Anna Laudere als Fräulein, das nie lacht, und Edvin Revazov als Parzifal (schon damals in dieser Rolle besetzt) zelebrierten diese zarte Lovestory sehr anrührend. Ein Übriges tat die Musik: „For Alina“ von Arvo Pärt, das Michal Bialk andächtig und innig wie ein Gebet spielte. Ein sehr besonderer Moment an diesem Abend.
Und dann – Höhepunkt und Abschluss dieses Teils – ein Pas de Deux aus „Désir“ zum Nocturne für linke Hand von Alexander Skrjabin, die erste Choreografie, die Neumeier auf der Hamburgischen Staatsoper zeigte, konkret am 9. September 1973 im Rahmen seiner ersten Ballett-Werkstatt. Was Silvia Azzoni und Alexandre Riabko hier darboten, war Tanzkunst in allerhöchster Vollendung.
Im dritten Teil dann die Reminiszenz an die Gäste, Ausdruck der hohen Gastspiel-Aktivität des Hamburg Ballett innerhalb dieser 50 Jahre, mit über 1.200 Vorstellungen auf fünf Kontinenten in 31 Städten. Wie Francesco Gabriele Frola vom English National Ballet hier den männlichen Part im Pas de Deux aus „Blumenfest in Genzano“ von August Bournonville präsentierte, war atemberaubend. Akimi Denda und Dan Tsukamoto vom Tokyo Ballet, mit dem Neumeier oft zusammengearbeitet hat (neun Tourneen führten das Hamburg Ballett für 112 Vorstellungen nach Japan), zeigten mit „Bhakti III“ eine Choreografie von Maurice Béjart aus dem Jahr 1968, die leider etwas blutleer daherkam.
Mit „One Thought for a Lifetime“, eigens kreiert zum 50-Jahre-Jubiläum, beschenkte das National Ballet of China, das mehrere Neumeier-Werke im Repertoire hat, den Hamburger Ballettintendanten – ein sehr poetisches, ruhiges Stück auf ein Gedicht: „In der Nacht leuchtet ein Wegweiser; im Nebel lenkt ein langer Stab. Die Zeit fließt, wir reisen durch die Jahre, ein Gedanke zündet, das Streben eines Lebens.“ Das hatte im Zusammenwirken mit der sehr feinen, zurückhaltenden Choreografie von Fei Bo, getanzt von Qiu Yunting und Li Wentao, auch durchaus etwas Tröstliches.
Den Mantel des Schweigens betten wir lieber über den Pas de Deux aus dem letzten, mit 93 Jahren geschaffenen Werk des kürzlich verstorbenen Pierre Lacotte (dessen „La Sylphide“ vor vielen Jahren beim Hamburg Ballett auf dem Spielplan stand) – das war nach so feinfühliger Innigkeit einfach zu viel Kitsch und Schwulst.
Den Abend beschloss der 6. Satz aus Mahlers Dritter Sinfonie, dem Signaturstück des Hamburg Ballett, von Neumeier 1975 als abendfüllendes Stück erstmals auf eine vollständige Mahler-Sinfonie geschaffen. Er selbst stand dann inmitten seiner Kompanie auf der Bühne und streckte zu den wuchtigen Schlussakkorden vergebens die Arme nach dem am vorderen Bühnenrand vorbeischreitenden Engel (Alina Cojocaru) aus. Es brach einem schier das Herz ob all dieser Symbolkraft…
Simon Hewett leitete das Philharmonische Staatsorchester sicher durch die verschiedenen Musikstücke des Abends. Und natürlich gab es großen Jubel, Standing Ovations, üppige Blumensträuße und den üblichen Konfettiregen vom Schnürboden. Neben den bereits erwähnten Beförderungen freuten sich Louis Musin über die Ernennung zum Solisten und Karen Azatyan zum Ersten Solisten (von 2014 bis 2019 war er schon einmal in dieser Position, seit 2020 gehört er als Solist der Kompanie wieder an).
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