„Weihnachtsoratorium“ von John Neumeier. Tanz: Ensemble

Wenige heilige Momente, aber berührender Tanz

10 Jahre getanztes „Weihnachtsoratorium“ in Hamburg

Manchen mag diese Tanzschöpfung zu wenige heilige Momente präsentieren, sicher ist sie aber eine sehr gelungene ästhetische Verbindung von Darstellender Kunst und Religion - und der Tanz bleibt überwältigend schön!

Hamburg, 06/01/2024

John Neumeier präsentiert auch in dieser, seiner letzten Saison als Ballettintendant an der Hamburger Staatsoper neben anderen herausragenden Produktionen wie „Die Kameliendame“, „Illusionen wie Schwanensee“, „Ghost Light“ und „Endstation Sehnsucht“ - seine Gesamtinszenierung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach mit allen sechs Kantaten hintereinander.

Der Besuch des Balletts „Weihnachtsoratorium I - VI“ von John Neumeier scheint für die Hamburger Theaterbesucher*innen genauso zum Fest zu gehören wie ein feines Essen und der leuchtende Tannenbaum auf der Binnenalster. Auch in diesem Jahr waren die drei Vorstellungen restlos ausverkauft und wurden - und dies ist fast auch schon Tradition - mit Standing Ovations bedacht und vom Publikum bejubelt.

So mancher Mensch vergisst in der Weihnachtszeit vielleicht, dass das Weihnachtsfest ja bis Dreikönig geht und die Darstellung der weltweit zitierten Krippenszene genau am 6. Januar spielt, an dem die Heiligen Drei Könige das Jesuskind finden und ihm als Heilsbringer der Menschheit huldigen. So sei an diesem 6. Januar noch einmal an das Großprojekt von John Neumeier erinnert.

Begonnen hatte es mit einer Anfrage des Intendanten des Theaters an der Wien Roland Geyer, der John Neumeier zu der Choreografie anregte. Dort fand auch in 2007 die Uraufführung des ersten Teils mit den Kantaten I bis III statt. Im Dezember 2013 dann die Uraufführung des Gesamtwerks mit allen sechs Kantaten in Hamburg und im Dezember 2014 die DVD-Aufzeichnung in Kooperation mit dem ZDF und Arte.

Interessant ist, dass sich die Besetzung der Hauptrollen in all den Jahren, vor allem bei den Protagonist*innen des Gesamtwerks fast nicht veränderte. Einige Tänzer*innen tanzten sich von der Gruppe hinein in Soloparts, andere wie z.B. Silvia Azzoni tanzte von Anfang an den Engel und dies - seit 2013 in wunderbar inspirierter Art - zusammen mit Alexandr Trusch. Beide überzeugen auch heute noch mit ihrer Leichtigkeit, ihrem Strahlen als Licht- und Hoffnungsbringer: Silvia Azzoni tanzt mit innerer Erfüllung und Alexandr Trusch mit feiner Technik und lyrischem Ausdruck.

Anna Laudere, die die Rolle der Mutter (Maria) mit der Premiere des Gesamtwerks von Anna Polikarpova übernommen hat, tanzt barfuß und ausdrucksvoll mit vielen modernen Bewegungselementen in ihren Soli. Zurückhaltend und gleichzeitig human wirkt ihr Tanz - doch die Szenen, in denen sie die nicht einfache Beziehung zu ihrem Mann (Josef), getanzt von Edvin Revazov, darstellt, sind meist zu kurz, als dass man sich in deren Bezug zueinander einleben könnte. Dieses ansonsten traumhaft harmonische Tanzpaar muss oft Minuten, ja ganze Viertelstunden lang neben der Szene sitzen und auf ihren nächsten Auftritt warten, während sich die Gruppe in den großen Chorpassagen die Seele aus dem Leib tanzt. Hier wirkt Neumeiers Inszenierung einfach zu spröde.

Überhaupt kann man sagen, dass der Star in dieser Inszenierung zweifellos das gesamte Ensemble ist: angeführt von zwei Solopaaren tanzen sie in den vielen Gruppenszenen die Freude über Gottes Existenz im Himmel, über die Geburt Jesu - für gläubige Menschen der Retter der Welt - mit unbändigem Temperament heraus: sie springen Grand Jetés, Battus, Brisés und die Männer Double Touren, dass die Funken nur so sprühen! Es ist ein ständiges Auf und Ab von der Bühne und eine choreografische Vielfalt, die ihresgleichen sucht. In diesem Ballett wäre jede*r wohl gerne Gruppentänzer*in! Auch besinnliche Momente entstehen bei den Bildern, die das Volk auf der Reise zeigen, z.B. in der Sinfonia, einem lyrischen Zwischensatz, der die Menschen verletzlich und auf der Suche darstellt. Eine kluge Farbdramaturgie bei den Kostümen, die sich anfangs von Tiefrot (wie die Liebe) über Schwarz, das an Trauer und Verlust erinnert, bis hin zum hellstrahlenden Weiß am Ende entwickelt, wo sich der hoffnungsvolle Eröffnungschor mit seinem berühmten „Jauchzet, frohlocket“ noch einmal wiederholt und der Kreis der Lobpreisungen sich schließt.

Aleix Martinez, der sich vom dynamischen Vortänzer der Gruppe (mit seinem hochenergetischen Tanz noch in dieser Rolle in der Video-Aufzeichnung zu sehen) ist inzwischen 1. Solist und spielt den Mann, der nachdenklich durch die Szene läuft und sie kommentiert - das ist mehr Spiel als Tanz, aber zum Schluss darf er nochmals mit allen anderen in den Jubeltanz einstimmen und sein ganzes tänzerisches Können zeigen. Schade, dass seine Rollen (auch in anderen Balletten) inzwischen mehr darstellerisch geworden sind. Einen begnadeteren Tänzer als ihn hat man lange nicht gesehen!

Die musikalische Leitung dieser Live-Aufführung liegt seit Beginn in den Händen von Alessandro De Marchi. Der Dirigent treibt es allerdings mit dem Tempo auf die Spitze, sodass die Sänger*innen kaum Zeit zum Atmen haben und die Choreografie vor dem Auge des Publikums nur so dahinfliegt, was zwar beeindruckend ist, aber dazu führt, dass manche Bewegungen der Choreografie nur noch rudimentär erkennbar sind - wie bedauerlich! Das Lob gilt allen Protagonist*innen, ob im Tanz oder in der Musik, die sich willig diesem Tempo stellen. Bei den Sänger*innen besonders dem Tenor Manuel Günther, der mit gestochen scharfen Koloraturen in seinen Arien beeindruckt und auch dem jungen Äneas Humm, der mit seinem warmen Bass-Bariton aufwartet und eine feine Antenne für das Geschehen auf der Bühne entwickelt. Katja Pieweck mit einfühlsamem Alt und die Sopranistin Marie-Sophie Pollack ergänzen das Gesangsteam aufs Feinste, wobei M.-S. Pollack mehrfach versucht, durch ihren Gesang den Dirigenten im Tempo zu bremsen - leider ohne Erfolg. Ein wenig mehr Ruhe hätte der Aufführung sehr gutgetan.

Die zweiten heimlichen Stars der Inszenierung sind die (heiligen) Drei Könige, in John Neumeiers Version „die drei Weisen“, getanzt von Florian Pohl, Artem Prokopchuk und Lizhong Wang. Sie sitzen zu Beginn der Szene auf ihren transparenten Stühlen und schauen jeder auf seinen eigenen, exklusiven Ausschnitt des Universums - ein schönes Bild. Es folgt ein witziger, eleganter, ja mit ihren bunten, weiten Pumphosen und ihren nackten Oberkörpern fast sinnlicher Tanz und zeigt sie auf ihrem Weg zum Jesuskind. Dabei wirken sie so gar nicht heilig. Geleitet vom Stern zu Bethlehem finden sie Mutter und Kind, dem sie für einen kurzen Moment auf Knien huldigen und schon geht ihr unterhaltsamer Tanz weiter. 

Insgesamt präsentiert John Neumeier eine eher säkulare, ästhetische Interpretation, die auf die Wirkung der Musik setzt und auf höchst interessante Weise die musikalische Vorlage Bachs, die (in ungekürzter Form gespielt wird) nummern-übergreifend in größere szenische Zusammenhänge stellt, die wiederum ihrerseits mannigfaltigste Assoziationen bezüglich der Weihnachtsgeschichte und des Glaubens zulassen, ohne diese direkt vorzugeben. Manchen mag diese Tanzschöpfung zu wenig religiös sein, zu wenige heilige Momente präsentieren, von denen allerdings unablässig gesungen wird. Sicher ist es aber eine sehr gelungene ästhetische Verbindung von Darstellender Kunst und Religion - und der Tanz bleibt überwältigend schön!

Kommentare


Vielen Dank für diesen plastischen, lebendigen und kritischen Bericht zu dieser Aufführung. So erhalte ich einen Eindruck, obwohl ich leider nicht dabei sein konnte.

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