„La Sylphide“ von Pierre Lacotte nach Filippo Taglioni. Tanz: Ensemble

Bilderbuchreife Premierenserie in subtilen Schattierungen

Das Bayerische Staatsballett tanzt nach drei Jahrzehnten wieder „La Sylphide“

Neu ist die Choreografie: die Fassung der Pariser Uraufführung 1832, die Pierre Lacotte zu Originalmusik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer Anfang der 1970er Jahre rekonstruiert hat. Ein Rückblick auf zahlreiche Debüts.

München, 11/12/2024

Abend für Abend Jubel – und zum Schluss wiederholt Applaus auch hinter dem geschlossenen Vorhang. Dabei gibt es für die Hauptprotagonist*innen bei „La Sylphide“ gar kein Happy End – zumindest nicht laut Libretto. Verlieben sich Elfenwesen und Mensch, geht das mit Sicherheit schlecht aus. Ganz anders kann es den Interpret*innen solcher Rollen ergehen, wenn heutige Ballettdirektor*innen derartige alte Schätze frisch aufpolieren und neu ins Repertoire integrieren. Da kann einer schon mal die tänzerische Karriereleiter nach oben fallen. Die zeitlose Quintessenz der Geschichte von „La Sylphide“ bleibt jedoch, dass es immer wieder Leute wie James gibt und geben wird, die sich auf ihrem Lebensweg in eine Sackgasse verirren.

In München war nun – nach 30-jähriger Spielpause – der nicht unerhebliche Aufwand für eine Neuinszenierung von „La Sylphide“ jede Mühe wert. Allerdings holte man nicht etwa die gängigere und früher auch im Nationaltheater gespielte „La Sylphide“-Variante des dänischen Choreografen Auguste Bournonville aus der Versenkung zurück. Ballettchef Laurent Hilaire entschied sich stattdessen für eine veritable Zeitreise, indem er Pierre Lacottes Rekonstruktion von 1972 nach der Urfassung von Filippo Taglioni aus dem Jahr 1832 auf den Spielplan setzte. Mit dieser puristischen Wahl folgt Hilaire John Neumeier (Hamburg Ballett 2008) und seinem Ex-Tänzerkollegen an der Pariser Oper Manuel Legris (Ballett der Wiener Staatsoper 2011).

Dirigent Myron Romanul hat im Vorfeld das Orchestermaterial anhand der erhaltenen Originalpartitur von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer erstellt und viele Proben im Ballettsaal begleitet. In den aktuellen Aufführungen reißt sein Blickkontakt hinauf zur Bühne kaum je ab. Daher fällt Romanul leicht, die musikalischen Akzente und Tempi am Ende der Variationen für individuell lange in der Arabeske gehaltene Balancen oder hohe, weite Sprünge immer geschmeidig dem Duktus der Tänzer anzupassen. Die in den hauseigenen Werkstätten angefertigten Kulissen erstrahlen im Glanz einstiger Ausstattungsästhetik. Im ersten Akt – wenn auf einem Gutshof im schottischen Hochland Hochzeit gefeiert werden soll – ragen gräuliche Hauswände mit hohen Fenstern bis zur Decke und beengen die Choreografie geradezu. Der sich draußen in der Natur abspielende zweite Teil bildet einen Kontrast hierzu. Er beginnt geheimnisumwoben in einem gemäldeartigen, in die Tiefe gestaffelten Bühnenbild, das zauberhaft im Mondlicht schimmert.

Wirkung zu erzeugen wie anno dazumal – genau darum geht es hier. Man kann das mögen oder als überholten Kitsch abtun. Stilistisch jedenfalls ist die Kompanie ganz in die filigrane Tanztechnik der französischen Schule eingetaucht. Und das debüthungrige Ensemble des Bayerischen Staatsballetts macht im historisierenden Ambiente durchweg Bella Figura. Selten wurden im Anschluss an eine Premiere – die erste der laufenden Saison – so viele Tänzer*innen befördert wie jetzt nach Lacottes ureigener choreografischer Vision einer historischen Aufführungspraxis. Dabei müssen die Akteur*innen in diesem rekonstruierten Prototyp des klassisch-romantischen Balletts mit flinken Schrittkombinationen und klaren pantomimischen Gesten eine ihnen übergestülpte charakterlich-psychologische Folie ausfüllen und können nicht wie in modernen Handlungsballetten jede emotionale Regung und damit Bewegung aus dem Inneren heraus entstehen lassen. 

Wer wie Florian Ulrich Sollfrank, Matteo Dilaghi oder Severin Brunhuber (die zwei letztgenannten tanzen fortan in München als Halbsolisten) den Part des bodenständigen Freunds Gurn verkörpert, dem stehen bloß begrenzt Möglichkeiten zur Verfügung, die Figur darstellerisch auf den Punkt zu bringen. Punktgenau muss im Timing und stets in Form einer schauspielerischen Reaktion auf das Handeln der Anderen Präsenz erzeugt werden, um zum einen James‘ Verhalten zu kommentieren und zugleich die eigene Zuneigung für dessen Braut Effie zu verdeutlichen. Quasi eine Fingerübung für die drei genannten Tänzer, die das sehr menschlich jeder nach seiner Façon angehen. Bevor der Vorhang nach dem ersten Akt fällt, knien sie jedoch alle mit ausgebreiteten Armen und etwas benommenem Blick vor der heimlich Angebeteten – dorthin mit Nachdruck von ihren Kameraden in blauen Schottenröcken bugsiert.

Zu Halbsolisten wurden außerdem Konstantin Ivkin (oft herausragend; diesmal nur in der Gruppe besetzt) und Zachary Rogers ernannt. Letzterer meisterte in der zweiten Vorstellung den schottischen Pas de deux ganz exzellent – gemeinsam mit der Ukrainerin Zhanna Gubanova, die wie er erst seit vergangener Spielzeit dem Bayerischen Staatsballett angehört. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigte sich tags darauf. Lizi Avsajanishvili und Ariel Merkuri hatten bei ihrem Debüt noch mit den „versteckten“ technischen Schwierigkeiten an dieser Stelle zu kämpfen. Am Abend danach bewältigten sie die als Auftritt eines befreundeten Paares mit vorbildhafter Funktion angelegte Divertissement-Nummer dagegen harmonisch-virtuos-synchron einwandfrei.

Längst wohlverdient: Carollina Bastos und Margarita Fernandes erhielten ihre Beförderungen zu Solistinnen des Bayerischen Staatsballetts. Bastos‘ Interpretation der Effie am Premierenabend bleibt ausdrucksstark in Erinnerung – als die eines gutbehütet taffen Mädchens, das von James (Jakob Feyferlik) irrational unbedacht in einen Zwiespalt der Gefühle gestürzt wird. Wie ihre Kolleginnen Elvina Ibraimova (Debüt Effie am 23.11.) und Zhanna Gubanova (Debüt Effie am 29.11.) tritt Bastos zudem als eine der „drei Sylphiden“ in Erscheinung – überirdisch schwerelos auf eine persönliche Art und Weise mit auffallend schönen Armbewegungen. Da fällt es nicht schwer, sie sich sofort als nächste Anwärterin auf die Titelpartie vorzustellen. 

Nicht nur eine, sondern gleich drei wichtige Rollen darf Margarita Fernandes in der neuen „Sylphide“-Produktion übernehmen. Mit António Casalinho an ihrer Seite startet sie beispielhaft durch. Die beiden tanzen bei der Premiere das schottische Paar einfach brillant. Zwei Tage später debütiert Fernandes als Effie. Der Clou ihrer Interpretation ist, dass sie ihre natürliche Ausstrahlung und zierliche Körpergröße hier sehr bewusst vorteilhaft einsetzt. Die Figur der Effie, die sich bei jeder Gelegenheit in die Arme der Mutter (Séverine Ferrolier) flüchtet, legt sie schlüssig als mädchenhafte Braut an – insgesamt wesentlich kindlicher als ihre Kolleginnen. Und Gurns Geschenk einer Feder weist sie nicht grundsätzlich ab. In der Besetzungskonstellation der dritten Aufführung hat dies plötzlich zur Folge, irgendwie nachvollziehen zu können, warum es der Sylphide überhaupt gelingt, James dermaßen den Kopf zu verdrehen, so dass er dieser ohne weiteres nachrennt und seine Verlobte einfach stehenlässt. 

Bei der Premiere am 22. November verleiht Ksenia Shevtsova den vorgegebenen, stets vorwärts fliehenden und aus der Achse kippelnden Bewegungsduktus der Titelpartie eine erstaunliche, fast irritierende Stärke für ein schwereloses Geschöpf. Die Erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts seit vergangener Spielzeit ist die einzige im Ensemble, die ihre Rolle bereits getanzt hat – in Russland. Folgenschwer verguckt sich ihre Sylphide in den schlafenden James. Und diesen lässt der stilsichere und techniksouveräne Jakob Feyferlik wunderbar mehr und mehr sich verlieren in den spielerisch-fordernden Verführungskünsten des ihn schmetterlingshaft umschwirrenden Elementargeists.

Im Vergleich dazu verleiht Madison Young der Rolle am zweiten Abend eine etwas melancholischere und im Temperament zurückgenommenere Note. Stets den Nacken akkurat verbogen haftet ihrem Tanzen der Anschein an, von einem Lufthauch bewegt zu werden. Wer historische Abbildungen der Uraufführungsinterpretin Marie Taglioni kennt, sieht diese hier in den Posen und zarten Port de bras durchschimmern wie eine Blaupause. Jinhao Zhang, der bei den Proben am „Spirit Leichtigkeit“ kräftig mitgelöffelt zu haben scheint, wirbelt sich an Youngs Seite einen Tick sportlich-furioser ins gesellschaftliche Aus als sein Kollege Feyferlik am Premieren-Vorabend. 

Laurretta Summerscales – sie ist als dritte Interpretin an der Reihe – bleibt wunderbar ganz bei sich als durch und durch koboldhaft-unschuldiger Luftgeist und wirkt weniger planvoll fatal als vielmehr schelmisch-impulsiv agierende Sylphide. In ihrer geradlinig-unverstellten Interpretation arbeitet sie als Antriebsfeder vor allem Neugier auf das unbekannte männliche Gegenüber heraus, das sie mit sich in ihre weltfremde Lebenssphäre und die mit weiteren Sylphiden bevölkerte Waldlichtung entführt. Julian MacKay als James scheint mitunter von ihrer Hartnäckigkeit beeindruckt zu sein. Am Ende steigert er sich regelrecht in eine verzweifelte Wut hinein, bevor sein James vor der Hexe Magde bewusstlos zusammenbricht. Diese wiederum verkörpert versteckt animos und kalt berechnend am 24. November erstmals Sergio Navarro herrlich vordergründig mit fast liebenswürdig-skurriler Grausamkeit. Viel gruseliger agiert da Robin Strona als Erstbesetzung einer keiner Welt richtig zugehörigen, rachsüchtigen Alten, die weder die Menschen noch ätherische Wald-Sylphiden mag und sich am Ende fies ins Fäustchen lacht. Dazwischen fegte Alexey Dobikov selbstgerecht mitleidslos im schmuddeligen Fetzengewand über die Bühne.

Selber in der Titelrolle als Sylphide weiß Margarita Fernandes in der vierten Vorstellung der Serie nicht minder zu überzeugen. Mit ihren 19 Jahren und ihrem nur zwei Jahre älteren Partner António Casalinho ist sie die jüngste Besetzung der gesamten Kompanie. Während die Effie von Zhanna Gubanova im zentralen Pas de trois des ersten Akts mit James und dem sich eigenwillig dazwischendrängenden überirdischen Geschöpf nicht so recht zu wissen scheint, wie ihr geschieht, verfolgt die Sylphide von Fernandes – unbeirrt vom Gefühlschaos, das sie losgetreten hat – konsequent ihr Ziel. Im zweiten Akt teilt sie mit Casalinho als James die Freude am sorglosen gemeinsamen Tanzen – nicht ahnend, dass sie bald zum Opfer eines fiesen Racheplans werden wird. Denn James lässt sich von Magde einen vergifteten Schal andrehen, damit die Sylphide ihm vermeintlich nicht mehr davonfliegen kann. 

Den Moment als James die Sylphide einige Schritte vor sich mit dem Tuch an der Taille erwischt, interpretiert Margarita Fernandes berührend zerbrechlich – wie jemand, dem man abrupt aus seinem Lebenselement kickt und von einer Sekunde zur anderen seiner Freiheit beraubt. Eingespannt in den zart gewebten Riemen bleibt ihr die Flucht nach vorne verwehrt. Kurz darauf rutscht sie sterbend von James‘ Knie durch dessen sie nun schützenwollende Arme zu Boden. 

António Casalinho, der den James wunderbar voller Aplomb und bis ins kleinste technische Detail überragend-lupenrein tanzt, macht ihr Tod fassungslos. Er mag nicht glauben, dass die schräge Madge (Sergio Navarro) ihn derart hinterhältig ausgetrickst hat. Erst im vergangenen Jahr stieg Casalinho zum jüngsten Solisten in der Geschichte des Münchner Ensembles auf. Seit seinem fabelhaften Debüt der männlichen Hauptrolle in Lacottes „La Sylphide“ am 29. November ist der 21-jährige Portugiese neuer Erster Solist des Bayerischen Staatsballetts – wieder der Jüngste! Schade nur, dass Ballettchef Laurent Hilaire solche Ernennungen nicht auf offener Bühne – noch in Präsenz des Publikums – verkündet. Alle „Sylphiden“-Begeisterten hätten es verdient, hier einbezogen zu werden.

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