Neumeier Nussknacker

„Der Nussknacker“ von John Neumeier, Tanz: Alessandro Frola als Drosselmeier, Ana Torrequebrada als Marie

Beachtliche Hamburger Debüts

John Neumeiers Klassiker in neuer Interpretation

Neue Solistinnen und Erste Solisten gab es im „Nussknacker“, der „Kameliendame“ zu sehen. Sie zeigten auf’s Neue den hohen Standard des Hamburg Ballett.

Hamburg, 01/02/2024

Es sind beeindruckende Zahlen, mit denen das Hamburg Ballett in seiner letzten Spielzeit unter der Intendanz von John Neumeier aufwarten kann: Über 250mal wurde seine „Kameliendame“ seit der Premiere am 1. Februar 1981 in Hamburg gezeigt. „Der Nussknacker“ – Dauerbrenner in der Weihnachtszeit – bringt es auf noch über hundert Vorstellungen mehr: 347 waren es am 30. Dezember 2023 seit der Premiere am 27. Oktober 1974. Und jede Vorstellung davon in dieser Spielzeit ist ausverkauft – was beweist, wie sehr das Publikum an diesen opulenten Werken hängt. Wie ohnehin die Auslastung der Ballett-Vorstellungen in der Hamburgischen Staatsoper in dieser Spielzeit – zumindest bisher – bei nahezu 100 Prozent liegen dürfte. Die Hamburger*innen lassen sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Meisterwerke ihres scheidenden Ballett-Intendanten noch einmal anzuschauen – wer weiß, ob sie unter der Leitung von Demis Volpi weiterhin gezeigt werden (seine mit großer Spannung erwartete erste Spielzeitpressekonferenz ist für Mitte März angesetzt). Die Neugier ist umso größer, da einige spannende Neubesetzungen anstanden.

Alessandro Frola: der neue Drosselmeier

Da ist allen voran Alessandro Frola, 23 Jahre alt, seit dieser Spielzeit zum Ersten Solisten ernannt und bereits vielfach in Hauptrollen erprobt. Der 2000 geborene Spross einer italienischen Künstlerfamilie (der ältere Bruder Francesco tanzt als Principal beim English National Ballet in London) hat eine rasante Karriere hingelegt: ausgebildet in Parma (Italien) in der Ballettschule seiner Eltern und später im Institut Fomento Artístico Cordobés in Veracruz (Mexico) erhielt er schon in dieser Zeit mehrere Preise und Stipendien (z.B. für die Jacqueline Kennedy Onassis School des American Ballet Theatre, die Schule des National Ballet of Canada, der Houston Ballet Texas und des Net Nationale Ballet in Amsterdam). Als 15-Jähriger wurde er unter 1.200 Bewerbern in Italien für die Hauptrolle im Musical „Billy Elliot“ gecastet und trat sage und schreibe neun Monate lang täglich (!) auf – eine grandiose Leistung für einen Jugendlichen. 2017 gehörte er beim Prix de Lausanne zu den Finalisten und entschied sich aus acht möglichen Stipendien, die dem Hochbegabten angeboten wurden, für die Ballettschule des Hamburg Ballett. 2019 wurde er in die Kompanie übernommen und debütierte noch im gleichen Jahr in der Rolle des Lysander in John Neumeiers „Sommernachtstraum“. Damit war er der jüngste Tänzer, der diese schwierige Rolle je ausgefüllt hat. 2022 wurde er zum Solisten ernannt, ein Jahr später zum Ersten Solisten. 2023 erhielt er den renommierten Dr. Wilhelm Oberdörffer-Preis.

Jetzt übertrug ihm John Neumeier zwei der anspruchsvollsten und technisch wie vor allem darstellerisch schwierigsten Rollen, die das Repertoire zu bieten hat: den Part des Drosselmeier in „Der Nussknacker“ und den des Armand Duval in der „Kameliendame“. Unterschiedlicher können Rollen kaum sein: hier der spleenige, etwas verschroben-überkandidelte Drosselmeier, bei dem man es so leicht übertreiben kann mit der Komik, was diesen an sich liebevoll gezeichneten Charakter der Lächerlichkeit preisgibt. Und dort der junge Mann, der die erste große Leidenschaft erlebt, von der Geliebten jedoch im Stich gelassen wird (aus Liebe allerdings, weil sie, die Kurtisane, ihm auf Bitten des Vaters nicht die Karriere verderben will). Erst nach ihrem Tuberkulose-Tod erkennt er, wie sehr er sich in ihr getäuscht hat. In drei großen Pas de Deux muss ein Tänzer diese Gefühlsachterbahn glaubhaft auf die Bühne bringen – ein Balanceakt zwischen Kitsch und zu Herzen gehendem Schicksal.

Wie Alessandro Frola diese Herausforderungen meistert, ist einzigartig. Seine hohe Musikalität, die Gnade seines wohlproportionierten Körpers mit den schönen langen Beinen und seine bestechende Eleganz erlauben es ihm, nicht nur die hohen technischen Ansprüche dieser beiden Rollen mit Bravour zu erfüllen, sondern auch all ihre Facetten zum Vorschein zu bringen und in der Tiefe auszuloten. Dabei erliegt er nie der Versuchung zu überzeichnen – weder den Drosselmeier noch den Armand. Nie legt er mehr in eine Geste hinein, als sie wirklich braucht. Und immer ist er ganz in der Rolle, lebt er sie aus einer inneren Authentizität heraus, die man in dieser Qualität selten findet.

Madoka Sugai: die neue Marguerite

Zu begeistern weiß auch die 29-jährige Japanerin Madoka Sugai. Sie ist schon seit 2014 im Ensemble, 2017 wurde sie Solistin, 2019 Erste Solistin. Immer wieder brilliert sie mit ihrer phänomenalen Virtuosität und Technik, keine Hürde ist ihr zu hoch – traumwandlerisch sicher sind ihre Balancen, ihre Pirouetten und Fouettés, die sie gerne double oder dreifach dreht. Je höher der Schwierigkeitsgrad, desto besser! Jetzt endlich hat John Neumeier ihr auch die Rolle der Marguerite in der „Kameliendame“ anvertraut, die nicht nur technisch schwierig ist, sondern vor allem darstellerisch. Muss eine Tänzerin doch die Wandlung einer Kurtisane von der käuflichen Frau zur staunend-inniglich Liebenden glaubhaft vermitteln, und zudem noch den Verzicht auf den Geliebten, mithin also das eigentlich so herbeigesehnte normale bürgerliche Leben, für das ihr angesichts ihrer Schwindsucht ohnehin kaum Zeit bleiben würde. Madoka Sugai bewältigt das mit großer Eindringlichkeit, auch wenn sie im ersten Akt bei ihrem Rollendebüt noch etwas Schwierigkeiten hatte, sich ganz darin einzufinden. Im zweiten und dritten Akt gelang es ihr dann umso eindrücklicher. Die Standing Ovations für sie und Alessandro Frola waren mehr als berechtigt.

Ana Torrequebrada: die neue Prinzessin Claire

Mit Beginn dieser Spielzeit zur Solistin ernannt wurde Ana Torrequebrada aus Burgos in Spanien. Auch sie entstammt der Ballettschule des Hamburg Ballett, die sie nach ihrer ersten Ausbildung in der Escuela Profesional de Danza „Ana Laguna“ absolvierte. Seit 2019 ist sie im Ensemble des Hamburg Ballett. Jetzt debütierte die 23-Jährige als Prinzessin Claire in „Illusionen – wie Schwanensee“, als Marie in „Der Nussknacker“ und als Prudence Duvernoy in „Die Kameliendame“. Schon als Gruppentänzerin fiel sie mit einer enormen Bühnenpräsenz auf, die sie jetzt in den solistischen Rollen zusammen mit ihrer blitzsauberen Technik schön entfalten konnte. Auf ihre weitere Entwicklung darf man gespannt sein.

Weitere Debütant*innen: Eleanor Broughton und Artem Prokopchuk

Erfreulich auch das Debüt der erst 19-jährigen Eleanor Broughton aus den USA als Olympia in „Die Kameliendame“. Sie tanzt in dieser Spielzeit, gerade der Ballettschule des Hamburg Ballett entsprungen, als Aspirantin in der Kompanie und erfüllte den Part der französischen Kokotte mit Anmut und Esprit. Ein vielversprechender Start!

Eher enttäuschend dagegen das Debüt von Artem Prokopchuk als Gaston Rieux in der „Kameliendame“ und als Tybalt in „Romeo und Julia“. Selten hat man diese Rollen so wenig inspiriert gesehen, vor allem der Part des Gaston Rieux braucht ja das gewisse Etwas an französischem Charme, um diesem Womanizer die richtige Kontur zu verleihen, ohne obszön und geschmäcklerisch zu werden. Dem konnte der 25-jährige Ukrainer leider nicht wirklich gerecht werden. Schade.

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