„Dido und Aeneas“ von Ina Christel Johannessen 

Von Vergil über Purcell zur Choreografin Johannessen

Das Bern Ballett zeigt eine überaus eindrückliche Inszenierung der Oper „Dido und Aeneas“

Schon im Prolog können die Mitglieder der Ballettkompanie demonstrieren, was für virtuose Tänzer*innen sie sind.

Bern , 12/11/2024

Aeneas muss aus dem brennenden Troja fliehen. Nach seiner Irrfahrt auf dem Mittelmeer landet er im nordafrikanischen Karthago. Dort verliebt er sich in die Königin Dido. Doch er muss seine Geliebte verlassen, da ihn Gott Jupiter nach Italien zur Gründung Roms ruft. Aus Verzweiflung über seine Abreise verflucht ihn Dido und begeht Selbstmord mit einem Dolch. So steht es in der „Aeneis“, dem lateinischen Epos von Vergil.

In den 1680er Jahren hat der englische Komponist Henry Purcell die Oper „Dido und Aeneas“ veröffentlicht. Inhaltlich weicht das Libretto von Vergils Erzählung teilweise ab. Es sind nicht die Götter, die Aeneas nach Italien befehlen, sondern Hexen und eine böse Zauberin, welche Dido ihr Liebesglück missgönnen. Figuren wie aus Shakespeares „Macbeth“ und typisch im damaligen Barock. Am Ende ersticht sich Dido nicht, sondern stirbt an gebrochenem Herzen.

Und nun hat die Norwegerin Ina Christel Johannessen, eine international profilierte, in der Schweiz bisher wenig bekannte Choreografin, mit dem Bern Ballett im Stadttheater Purcells „Dido und Aeneas“ zu einem anderthalbstündigen Tanz- und Opernabend gestaltet. Entstanden ist eine aufwändige, üppige, emotional sehr bewegende Aufführung
 

Beginn mit Technorhythmen

Zunächst glaubt man allerdings, man befinde sich in der falschen Vorstellung. Das Orchester sitzt bewegungslos da. Dafür erklingt ab Medienträger überlaute elektronische Musik, gespickt mit orientalischen Klängen und Gesängen. Die Tänzerinnen und vor allem die Tänzer zelebrieren ihr stupendes Können, zeitgenössischen Tanz voller akrobatischer Einschübe, mit Anleihen bei Street, Urban oder Break Dance. Als wollten sie zeigen, dass sie sich zwar gern in die Rollen einer Barockoper versetzen, aber in Wirklichkeit rasante heutige Künstler*innen sind.

Dann aber setzt das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Artem Lonhinow, einem gebürtigen Ukrainer, mit Purcells berückender Opernmusik ein. Und die Bühne bevölkert sich immer mehr: Zu den Tänzer*innen kommen die Gesangsolist*innen, dazu der Chor der Bühnen Bern sowie ein Kinderchor. Sie singen nicht nur, sondern sind auch ständig in Bewegung. Alle zusammen wirken dann wie eine wogende Volksmasse.

Der Gesang der Hauptfiguren, Evgenia Asanova als Dido, Patricia Westley als deren Vertraute und Jonathan McGovern als Aeneas, beeindruckt durchweg. Im Brennpunkt der Produktion aber stehen die Tänzer*innen. Dabei haben Romane Ruggiero (Dido) und Andrey Alves (Aeneas) zwar inhaltlich die wichtigsten Rollen, doch sind alle 15 Mitglieder des Bern Balletts fast gleichwertig in Aktion, oft mit mehrfacher Identität. Im Programmheft werden sie deshalb nicht einzeln hervorgehoben, sondern nur alphabethisch der Reihe nach aufgeführt. Also ein Kollektiv, auf nackten Füßen, waghalsig und hoch artistisch.

Singende und Tanzende treten nur selten zusammen als Paare auf, tragen aber eine ähnliche Kleidung. Bei aller Regsamkeit auf der Bühne vermisst man - wie in der Oper auch - in der Choreografie heiße Liebesszenen zwischen Dido und Aeneas. Diese haben zusammen auch nur eine gemeinsame Nacht in einer Höhle verbracht. Dafür tanzen rundherum andere Paare und illustrieren die verschiedenen Phasen der Beziehung.

Die Oper würde nur eine Stunde dauern – die Aufführung in Bern ist dagegen anderthalb Stunden lang. Denn zusätzlich zum Prolog spielt sich auf der Bühne noch ein Theater im Theater ab: Die schreckliche Geschichte des Jägers Actaeon (Indar Carmona Vinas), der die Göttin Diana (Marieka Monquil) beim Bade überrascht und zur Strafe in einen Hirsch verwandelt wird. Den zerfleischen dann die eigenen Hunde. Bei Purcell wird das Drama nur kurz erwähnt, in der Berner Inszenierung dagegen breit ausgeführt. Teils makaber, teils lustig, wenn die Tänzer*innen mit Hundemasken herumtoben. Als Musik dazu wird eine Violinsonate von Giuseppe Tartini eingefügt, die sich auf das Dido-Thema bezieht. Und als glänzender Sologeiger wirkt Artem Lonhinov, der Dirigent. Wie an vielen kleineren Theatern können sich auch in Bern gelegentlich Multitalente entfalten.
 

Tote Kinder statt Rosen auf dem Grab

Warum aber treten am Schluss Väter und Mütter auf, die verletzte oder tote Kinder auf den Armen tragen? Nach Didos bewegendem Lamento vor ihrem Tod, dem gesanglichen Höhepunkt der Oper, endet diese mit dem Chor „Streut Rosen auf ihr Grab“. Johannessen dagegen hat dem Stück einen aktuellen politischen Rahmen gesetzt: Am Anfang bitten Kinder ihre Königin, Frieden in Karthago, das ungefähr dem heutigen Tunis entspricht, zu bewahren. Doch nach Didos Tod wird die Stadt in einen neuen Krieg geraten, die Stadt in Flammen aufgehen wie einst Troja. Krieg und tote Kinder – wer denkt da nicht an die Tragödie in Gaza.

Liebe, Krieg und Frieden, alles spiegelt sich in der stimmungsvollen und fantasiereichen Berner Produktion. Zum Gelingen trägt auch das Bühnenbild von Yngvar Julin bei: Zwei mächtige bewegliche Versatzstücke, die mal den Platz einer antiken Stadt umrahmen, mal große Hafenmauern oder eine Zuschauertribüne für das Theater im Theater bilden.

Eine große Produktion. Das Publikum ist bei der Uraufführung am letzten Sonntag begeistert und spendete allen Mitwirkenden jubelnden Applaus.

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