Schlicht und ergreifend
In Heidelberg zu Gast: Solo-Tanz-Theater made in Stuttgart
Tanzen auf Socken erlaubt elegantes Gleiten, schnelles Drehen und schwereloses Rutschen; bei hohem Tempo allerdings bringen mangelnde Reibung und fehlende Bodenhaftung die Gefahr von Balanceverlust mit sich. Für sein neuestes Stück „Imbalance“ (Ungleichgewicht) hat Matthias Kass, Leiter und zentraler Tänzer der von ihm (gemeinsam mit Clément Bugnon) gegründeten „company Idem“, alle Mitwirkenden demonstrativ mit Socken ausgestattet.
Inspirationsgeber für seine höchst ausgefeilte Choreografie waren die überlieferten Festlichkeiten des Dionysos-Kults, die als Ursprung des Theaters in seiner heutigen Form gelten. Der Gott des Weines und der Fruchtbarkeit, der Freude, Ausschweifung und Ekstase soll der menschenähnlichste der griechischen Götter gewesen sein. Das größte antike Dionysos-Theater fasste siebzehntausend Besucher, und die gemeinschaftliche Rausch-Erfahrung dauerte bis zu sieben Stunden. Dem zeitgenössischen Choreografen mussten fünf Mitwirkende und rund 90 Minuten reichen, um den Mythos zu beschwören. Dabei setzte der charismatische Tänzer – klassisch ausgebildet an der Stuttgarter John-Cranko-Schule, modern an der Dresdner Palucca-Schule – auf ein raffiniertes Crossover der Stile und auf die stark rhythmisierte, treibende Musik (Auftragskomposition von Michio Woigardt).
Intensives Gemeinschaftserlebnis
Den Anfang macht eine mythische Figur: Eine Tänzerin im schwarzen Reifrock-Kleid, die Beine durch ein unsichtbares Untergestell ins Überirdische verlängert, wiegt sich mit fliegenden hüftlangen Locken dramatisch in alle Richtungen. Sie gibt das Bewegungsvokabular vor, aus dem heraus Kass den ersten Teil des Stücks entwickelt. Ein Vortänzer in roter Hose – der Vorzeigefarbe des Stücks – eint ein farbloses Grüppchen in ein immer intensiveres, immer schnelleres Gemeinschaftserlebnis. Dabei hat der Tanzboden wohl ein bisschen mit Hafteffekt mitgeholfen, die drohende Sturzgefahr einzudämmen: Beim Pausen-Umbau auf offener Bühne musste der schwarze Tanzteppich erst mühevoll gereinigt werden, bevor er abgebaut werden konnte.
Kulturelle Referenzen en masse
Auf dem darunter zum Vorschein kommenden weißen Tanzgeviert entfaltete der zweite Teil des Stücks seinen Spannungsbogen vom höfischen Tanz über die Ursprünge des Balletts bis in die aktuelle Partyszene. Die Tänzer*innen, anfangs in dunklen Hosen und hochgeschlossenen Hemden, reizen im Spannungsfeld zwischen Individualität und spannungsgeladenen Ensemblenummern eine große Bandbreite von kulturellen Referenzen aus. Nach und nach blitzt mehr rote Farbe in den Kostümen auf; parallel dazu gerät die Bühnenparty außer Rand und Band. Am Ende wird ein Vorhang ab- und der Tanzboden aufgerissen – wie es so zugeht, wenn dem Dionysos-Rausch nicht durch Mäßigung, Form und Schönheit des Apollo-Mythos‘ im Gleichgewicht gehalten wird.
Es verwundert nicht, dass Matthias Kass als einer der vielversprechenden, originellen und handwerkskundigen Nachwuchs-Choreografen gilt. Dass sein außergewöhnliches Stück in der Heidelberger Hebelhalle gezeigt werden konnte, ist dem aktuellen Festival D-Dance geschuldet. Die hier gezeigten Stücke sind alle wenigstens zum Teil bei Residenzen im räumlich angrenzenden Choreografischen Centrum erarbeitet worden – bestens angelegtes kulturelles Fördergeld.
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