Wenn Stücke, die einst als Avantgarde-Vorreiter gefeiert wurden, unaufhaltsam in den Klassiker-Status überwechseln, kann die Begegnung enttäuschend ausfallen – von der ehemaligen Sensation kratzt der Zahn der Zeit manchmal unbarmherzig den Lack ab. Beim Gastspiel des Ballet de Lyon war diese Sorge unbegründet. Der Tanzabend „Merce Cunningham Forever“ spannt zwei Stücke des Allzeit-Meisters in Sachen experimenteller Choreografie zusammen in ein von der ersten bis zur letzten Minute fesselndes Programm.
Merce Cunningham (1919 bis 2009) hat den langsamen Verfall am eigenen Körper erlebt – in den letzten Jahrzehnten seines Lebens war er von schwerer Arthritis gezeichnet. So ein langsames Sterben wollte er seiner eigenen Company ersparen; nach seinem Tod durften sie nur zwei Jahre lang auf Abschiedstournee gehen und musste dann aufgelöst werden. Bis heute werden die Aufführungsrechte seiner Stücke sparsam vergeben. Es muss schon etwas Besonderes dabei herauskommen … Das Ballet de Lyon kann nicht nur mit seinem Ruf als führende Kompanie für modernen Tanz Frankreichs punkten, sondern lässt als besonderen Schachzug die Musik live spielen lassen und zwar von ganz besonderen Interpreten.
Gavin Bryars: Programmatische Kompositionen
Am Ende steigt er mit seinen drei Mitstreitern einfach aus dem Orchestergraben des Ludwigshafener Pfalzbaus: Gavin Bryars, einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten (Jahrgang 1946), dessen Werk sich zwischen Minimal, Jazz und Electronic nicht eindeutig verorten lässt; der mal mit John Cage studiert hat und der die musikalische Grundlage für gleich mehrere ikonische Choreografien in der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes geliefert hat: für Maguy Marins „May B“ (das bis heute meistgespielte moderne Tanzstück überhaupt) und William Forsythes Welthit „Quintett“.
In den beiden Stücken dieses Abends spielt die Musik eine programmatische Rolle – denn sie liefert die Anknüpfungspunkte für Assoziationen und Emotionen. Für das Abschlussstück „Biped“ hat Cunningham bei Bryars eine Auftragskomposition geordert: ein Nachdenken über die Vorwärtsbewegung auf zwei Beinen, die als Privileg des Menschseins gilt. Gehen hat viel mit flexiblem Gleichgewicht zu tun; Musik und Bewegungssprache erkunden auf ihre Weise die beeindruckenden Balance-Fähigkeiten der 14 Tänzerinnen und Tänzer.
Dem Eingangsstück „Beach Birds“ hat der Choreograf die Komposition „FOUR“ seines Lebens- und Arbeitspartners John Cage zugrunde gelegt. Rainsticks sorgen darin für rieselnde Wasser-Assoziationen und helfen, den Erlebnisraum Strand auf der Bühne aufzuspannen. Marsha Skinner steuerte Vogel-Kostüme (weiße Bodies und schwarze, in Handschuhe übergehende Armschwingen) sowie das Bühnenbild (ein vom Zufallsprinzip dominerter Farb- und Lichtwechsel) bei. Die Tänzerinnen und Tänzer lassen ganz unaufgeregt vor dem inneren Auge eine Vogelschar am Strand entstehen, mit Scharren und Picken, mit Flügelschlägen, Hüpfen, Springen und Flattern. Man hätte sie gerne fliegen gesehen …
Akribische Erkundung des Ausbalancierens
In „Biped“ hat Cunningham der akribischen Erkundung des Ausbalancierens viel Technik entgegengengesetzt: Metallisch glitzernde, verblüffend wandelbare Kostüme, sowie Motion Capture, die Erfassung von choreografischen Sequenzen und deren Umwandlung in digitale Bilder – nicht nur Forsythe hat diese Technik bis zu höchster Komplexität weiterentwickelt.
Am Ende bleibt eine ganz menschliche Geste in Erinnerung, wenn ein Tänzer wie ein Vorreiter der Kompanie ganz vorne am Bühnenrand wie hilfesuchend die Hand zum Publikum ausstreckt.
Zuletzt schafft es das Mensch-Sein doch immer in seine noch so abstrakten Stücke, in denen vielfach Computerprogramme bei der Festlegung der Tanzsequenzen geholfen haben. Aber all das haben sich unendlich kreative, sterbliche Menschen ausgedacht. Merce Cunningham mischte sich, als er noch nicht völlig an den Rollstuhl gefesselt war, gerne mal ganz beiläufig unter die kraftvollen Tänzerinnen und Tänzer seiner eigenen Company – ein fragiler Greis als lebendes Memento Mori. Vor genau dreißig Jahren bescherte er auf diese Weise dem Publikum des Ludwigshafener Pfalzbaus einen unvergesslichen Eindruck.
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