„Deepstaria“ von Wayne McGregor

Verstörende Wunder der Tiefsee

Deutschlandpremiere von Wayne McGregor’s „Deepstaria“ in Ludwigshafen

Herausforderungen an die Seh- und Hörgewohnheiten können reizvoll sein. Was aber, wenn der Tanz neben technischen Raffinessen verblasst?

Ludwigshafen, 11/11/2024

Der Brite Wayne McGregor gilt als Superhirn der internationalen Choreografenszene. Um seinem Ruf als Vorreiter innovativer Techniken auf der Tanzbühne gerecht zu werden, arbeitet er vorrangig mit hochdekorierten Kreativköpfen aus anderen Branchen zusammen. Während es ihm zuverlässig gelingt, neuartige Erfahrungen in Sachen Wahrnehmung für das Publikum zu kreieren, verlässt er sich immer weniger auf die reine Macht des (neoklassisch fundierten) Tanzes. Dabei werden seine inhaltlichen Botschaften zunehmend kritischer. „Deepstaria“, sein neustes Werkt, wurde bei den Ludwigshafener Festspielen erstmals in Deutschland gezeigt.

Für den Titel des Stücks hat eine rätselhafte, noch weitestgehend unerforschte Riesenqualle Pate gestanden. Ihr geheimes Leben in unvorstellbarer Meerestiefe hat Wayne McGregor dazu inspiriert, alles Licht absorbierendes Schwarz und eine ausgeklügelte, liebgewordene Hörgewohnheiten unterlaufende Geräuschkulisse auf die Bühne zu bringen – als Sinnbild für Leere, Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit. Die hoch komplexe Technik ist der eigentliche Star dieser Aufführung. Bei der elektronischen Klang-Komposition von Nicolas Becker, die zwischen unterschwellig unheimlicher Geräuschkulisse und dominierendem Soundteppich wechselt, übernimmt eine KI namens Bronze AI* die Rolle der aktuellen live-Anpassung an die jeweilige Aufführung. Dieser kalte Sound ohne rhythmisches Gitter kriecht ziemlich übergriffig ins Gehirn.

Seltsam emotionsloser Raum

Bühnenbildner Benjamin Males verwendet für Projektionsflächen die sogenannte Vantablack-Technik, die das Licht aus jedem Einfallswinkel gleichmäßig absorbiert und keine Tiefenschärfe erlaubt. Vor diesem seltsam emotionslosen, bedrohlichen Raum nehmen sich die neun Tänzer*innen der Company, zunächst in strengen schwarzen Dessous (Kostüme: Ilaria Martello), in ihren Ballettbewegungen höchst fragil aus. Die tapfere Selbstbehauptung mit den Mitteln einer neoklassischen Bewegungssprache – zum Beispiel in einem schönen, synchronen Pas-de-Deux zweier Paare – hat etwas vom zutiefst menschlichen Weitermachen im Angesicht einer übermächtigen Bedrohung.

Der zweite Teil spielt auf festem, freilich alles andere als sicherem Grund. Der Regen (ein faszinierend echtes Gebilde aus Licht, Projektion und Ton), fällt jetzt in Strömen von oben. Die Bewegungen werden zerdehnter, zerrissener, mal zarter, mal schärfer. Hier kommen Emotionen ins Spiel, und manchmal hört man pochenden Herzschlag. Männer und Frauen, genderneutral in transparenten hellen Anzügen und zuletzt in verspielten Hängerchen, suchen auch jenseits der Paarbindungen hilfreiche, tröstende Allianzen.

Am Ende tanzt Rebecca Basset-Graham, eine auffallende tänzerische Erscheinung, ein einsames, tastendes Solo – während die acht Übrigen (drei Tänzer, fünf Tänzerinnen) reglos aufgereiht am Bühnenrand liegen. So schnell können aus weißen Flatterkleidchen Leichenhemden werden.

Der beabsichtigte Frontalangriff auf übliche Wahrnehmungsmuster ist dem künstlerischen Team überzeugend gelungen. Angesichts dieser Übermacht büßten die choreografischen Finessen in einer formell geprägten Ästhetik freilich an Wirksamkeit ein. Mit anderen Worten: Der artifizielle Tanz wirkte gelegentlich ein bisschen beliebig.

 

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