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Ein halb digitaler „Nussknacker“ im Ludwigshafener Pfalzbau zu Gast
Immer noch gilt: Weihnachten treibt Menschen, die ansonsten keinen Gottesdienst besuchen, in die Kirchen. Weihnachten treibt Besucher*innen, die sonst das ganze Jahr über keine Tanzvorstellung sehen, ins Ballett. Und natürlich steht ganz oben auf der weihnachtlichen Hitliste „Der Nussknacker“ – dieses fantastische Tanzmärchen, das quasi unter dem Weihnachtsbaum spielt und das Zeug hat, alle Bedürfnisse nach schöner heiler Kindheitswelt zu erfüllen.
Kein Wunder also, dass der „Nussknacker“ mit schöner Regelmäßigkeit auf den Spielplänen der Tanzkompanien im Lande auftaucht – in Versionen, die ich genauso voneinander unterscheiden wie ein Comic von einem opulent ausgestalteten Märchenbuch. Als Äquivalent zu Letzterem kann der Stuttgarter „Nussknacker“ von Edward Clug aus dem Vorjahr gelten; eine Comicversion hob dagegen der Mannheimer Tanzchef Stephan Thoss aus der Taufe, in dessen turbulentem „Nüsseknacker“ Anspielungen auf Loriot zu entdecken sind.
Rar geworden sind dagegen die früher üblichen Gastspiele der eigens für diesen Anlass zusammengecasteten Tanztruppen mit auf Moskau, St. Petersburg oder Paris verweisenden Namen. Während sich russisches Ballett als Exportartikel aktuell verbietet, verblasst gleichzeitig auch der Glanz des klassischen Balletts made in Paris ein wenig – obwohl das Ballett der Pariser Oper selbstverständlich den Nussknacker in der Choreografie von Nurejew im Weihnachtsprogramm hat. So ein „Nussknacker“ bietet – seit der längst unter Kitsch- und Klischeeverdacht stehenden Originalversion von Marius Petipa – die Gelegenheit für eine heitere Nummernrevue mit nahezu unzähligen Rollen für ein großes Ensemble. Doch so viele Mitwirkende auf Reisen zu schicken, lohnt sich für eine Tourneeproduktion kaum noch.
Die reisende Pariser „Nussknacker“-Version von El Production, die jetzt im familientauglichen Weihnachtsprogramm des Ludwigshafener Pfalzbaus zu sehen war, kommt dagegen mit gerade mal sieben Mitwirkenden aus – drei Musikern, einem Conférencier alias Pate Drosselmeyer und drei tanzenden Mitwirkenden: Clara, deren Mutter alias Zuckerfee und dem Nussknacker alias Märchenprinz. Clou dieser Vorstellung mit dem vage aufs Digitale anspielenden Titel „C@asse Noisette / Nussknacker“ ist die Einbeziehung von Holo-Gauze-Technik – also eines transparenten, gleichzeitig stark reflektierenden Materials. Auf einen solchen Vorhang werden alle Elemente des Bühnenbildes projiziert: der Weihnachtsbaum, ein Heer aufziehbarer Blech-Spielzeugmäuse oder die Kulissen für den Schneeflockenwalzer, den Blumenwalzer und das Land der Süßigkeiten.
Hinter dem Namen El Production steht Elsa Bontempelli, die sich das Konzept der digital unterstützten Aufführung ausgedacht hat. Wer bei dieser Ankündigung die Alptraum-Vorstellung hatte, die fehlenden Heerscharen von Ensemblemitgliedern auf der Bühne würden durch KI kreierte Klone ersetzt (eine leider gar nicht so abwegige Idee), wurde schnell eines Besseren belehrt. Nein, hier wurde der „Zauber“ nicht perfekt inszeniert, sondern mit Augenzwinkern vorgezeigt. Kampf zwischen Nussknacker und Mäusekönig, Schneeflockenwalzer, Blumenwalzer, Tänze im Reich der Zuckerfee – die Kulissen und animierten Mitwirkenden waren deutlich mit Spaß am Klischee, aber auch mit Raum für Fantasie gezeichnet. Was die Choreografie für die drei Solist*innen angeht, so erfüllte sie brav die Ansprüche des Publikums an hübsches Aussehen und routinierte Bravourstückchen bei dürftiger Dramaturgie. Die Musik allerdings hatte es in sich: Das Trio aus Bass, Akkordeon und Klarinette verwandelte Tschaikowskys längst ohrwurmtaugliche Komposition in eine pfiffige Schrammelmusik mit witzigem Wiedererkennungswert – sogar zum angeleiteten Mitsummen.
„Ein Klischee ist peinlich, hundert sind genial.“ Der ursprünglich auf den unsterblichen Film „Casablanca“ gemünzte Kommentar kann helfen, diese ungewöhnliche Produktion einzuordnen. Hundert Klischees - oder Genialität - bietet diese Vorstellung nicht, dafür solide Unterhaltung mit entwaffnender Selbstironie. So nahmen auch die hörbar begeisterten rund 1000 Besucher*innen im vollbesetzten Pfalzbau nicht einmal am großen technischen Handicap des Abends Anstoß: Die neuen LED-Tafeln, auf denen die deutsche Übersetzung des charmanten, aber nur für höchst Französisch-kundige Ohren verständliche Rede des Conférenciers zu lesen sein sollte, verweigerten ihren Dienst – ein peinlicher und irgendwie ein ganz kleines bisschen tröstlicher Patzer.
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